Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
mitgegeben haben auf die lange Reise. Was für Eltern
, wiederholte sie. Sie schnitt mir direkt ins Herz. Ich war nicht imstande, ihr zu sagen, daß die Meinigen geglaubt hatten, die Reise ginge nur nach Saalfelden in den Salzburger Bergen, nur zwei Stunden weit, nicht nach Saalfeld in Thüringen. Es wurde für den armen Jungen, der ich aufeinmal war, gesammelt. Schließlich hatte ich mehr Äpfel und Butterbrote als alle andern. Alle Kinder waren aus dem südöstlichen Oberbayern, hatten bleiche Gesichter, es waren richtige Proletarierkinder mit ihrem derben Dialekt. Sie waren ärmlich und geschmacklos gekleidet. Kaum hatte sich der Zug in Bewegung gesetzt, hatten sie zu essen angefangen.
Armer Junge
, hatte die sogenannte NSV-Schwester zu mir gesagt und meine Hände fest in die ihrigen genommen eine Zeitlang. Nicht weil ich mich in ihren Händen geborgen gefühlt hätte, vor Abscheu und Ekel war ich aufeinmal ruhig, hatte zu heulen aufgehört. Wie alle andern fing ich zu essen an. In München sollten wir Station machen, hieß es, wir würden in Privatquartieren untergebracht über Nacht, am nächsten Morgen gehe die Reise dann von München über Bamberg und Lichtenfels nach Saalfeld weiter. Schließlich war meine Neugierde größer als meine Verzweiflung, und ich schaute nurmehr noch gierig durch das Fenster. In München zerschnitten, wie ich von meinem Fensterplatz aus sah, endlose Scheinwerfer, die zur sogenannten Luftabwehr eingesetzt waren, den Nachthimmel. Ein solches Bild hatte ich noch nie gesehen. Fasziniert drängten sich alle ans Fenster und beobachteten aufgeregt jeden den Nachthimmel absuchenden Lichtstrahl. Zu diesem Zeitpunkt waren auf München noch keine Bomben gefallen. Dieser Blick auf die Lichtsäulen war meine erste Konfrontation mit dem Krieg. Daß mein Vormund schon viel früher einrücken hatte müssen, zuerst nach Polen, hatte mich nicht sonderlich berührt, aber dieses Scheinwerferschauspiel war etwas Ungeheuerliches. In München waren fünf von uns in einer Wohnung untergebracht worden, in welcher eine alte Frau mit einem Nachtmahl auf uns wartete. Nach dem Nachtmahl gingen wir hinter einer Glastür, auf welche schöne alte Tapeten mit orientalischen Mustern geklebt waren, schlafen. Es war eine schlaflose Nacht, wie sich denken läßt. Zum Glück. Denn zum erstenmal nach langer Zeit hatte ich dadurch, daß ich nicht einschlafen konnte oder wollte, einmal nicht ins Bett gemacht. Denn ich war längst zum sogenannten Bettnässer geworden, zum
Unruhestifter
war ich mit der Zeit auch noch der
Bettnässer
. Keine Nacht zuhause, ohne daß ich auf einem nassen Leintuch aufwachte, zutiefst erschrocken, wie sich denken läßt. Bettnässen hat seine Ursachen, aber davon hatte ich keine Ahnung. Wenn ich aufwachte, war ich schon in das größte Unglück gestürzt. Ich zitterte vor Angst. Kaum war ich aufgestanden, ich hatte immer wieder noch mit der Decke meine Schande verbergen wollen, hatte meine Mutter die Decke wütend weggerissen und mir das Leintuch übers Gesicht geschlagen. Monatelang, jahrelang schließlich. Ich hatte einen neuen, beinahe tödlichen Titel zu tragen: Bettnässer! Wenn ich von der Schule nachhause kam, schon auf halber Höhe der Schaumburgerstraße, sah ich mein Leintuch mit dem großen gelben Fleck aus dem Fenster hängen. Meine Mutter hängte mein nasses Leintuch abwechselnd in der Schaumburgerstraße und dann wieder auf dem Taubenmarkt aus dem Fenster,
zur Abschreckung, damit alle sehen, was du bist!
sagte sie. Gegen diese Demütigung kam ich nicht auf. Mein Bettnässen verschlimmerte sich mit der Zeit. Immer wenn ich aufwachte, war es zu spät gewesen. Ich erinnere mich, daß ich jahrelang nicht nur ins Bett gemacht habe, auch tagsüber hatte ich alle Augenblicke eine nasse Hose. Im Winter, wenn ich mich mit meiner nassen Schande nicht nachhause getraute, ging ich stundenlang fröstelnd und frierend in der Stadt umher in der Hoffnung, meine Wäsche könnte ich auf diese Weise trocknen, aber das war ein Trugschluß. Zwischen den Oberschenkeln war ich schließlich ständig vom Urin verätzt und aufgewetzt. Jeder Schritt eine Qual. Bei jeder Gelegenheit passierte es mir, in der Kirche, beim Schilaufen, immer und überall. Wenn ich beichten ging, meine Mutter schickte mich, passierte es mir, während ich kniete und meine Sünden herunterstammelte. Ging ich aus dem Beichtstuhl hinaus, sah ich auf dem Boden die Bescherung und schämte mich. Bevor ich durch das Schultor trat, wenn
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