Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
ausgestreckte Hand schlägt mit dem Rohrstock. Ich machte schon an der Gefängnistür kehrt, im Davonlaufen hörte ich noch die Klingel aus der Schule heraus, der Unterricht hatte begonnen. Ich lief mit meiner Schultasche zuerst in die Au hinunter und ging dann in Richtung Schwimmbad. Von jedem, der mir begegnete, glaubte ich zu wissen, daß er wußte, daß ich die Schule schwänzte. Ich hatte einen eingezogenen Kopf. Es fröstelte mich. Ich hockte mich auf dem sogenannten Wochinger-Eck, einem beliebten Ausflugspunkt, ins Gras und heulte. Ich wünschte nur noch eines auf der Welt: daß mein Großvater kommt und mich rettet, bevor es zu spät ist. Ich hatte keine Zeit mehr. Ich war am Ende. Statt dem Ende kam die Erlösung. Mein Vormund und meine Mutter hatten das Ettendorfer Bauernhaus besichtigt und es gleich als ideal für meinen Großvater bezeichnet. Der Zins war nicht hoch, die Lage
einmalig
. Es war nicht weit in die Stadt, und es war doch ganz auf dem Land. Es war genau das bäuerliche Milieu, auf das mein Großvater größten Wert legte. In Gedanken richtete meine Mutter die Behausung für ihre Eltern ein. Das gibt eine herrliche Bibliothek, sagte sie. Tatsächlich, es war eine herrliche Bibliothek, die schon wenige Wochen nach der Zinsvorauszahlung durch meine Mutter und dem Einzug der Großeltern aus dem Südostzimmer des Ettendorfer Hauses geworden war. Mit einem Verlegervorschuß war ein Zimmermann mit der Ausarbeitung des Entwurfes meines Großvaters beauftragt worden. Ein Lastwagen mit Büchern und Manuskripten hielt vor dem Haus, die Regale füllten sich. Seit frühester Jugend, seit Basel, wie er immer sagte, hatte mein Großvater Bücher gesammelt, sie hatten kein Geld, aber immer mehr Bücher. Tausende. Im Arbeitszimmer im Mirtelbauernhäusl hatten sie gar nicht Platz gehabt, waren zum Großteil auf dem Dachboden untergebracht. Jetzt waren die Wände des neuen Ettendorfer Arbeitszimmers voll.
Ich wußte gar nicht, daß ich soviel Geist angesammelt habe
, sagte er,
und soviel Ungeist
. Hegel, Kant, Schopenhauer waren mir vertraute Namen, hinter welchen sich für mich etwas Ungeheuerliches verborgen hielt.
Und erst Shakespeare
, sagte mein Großvater.
Alles Gipfel, unerreichbar
. Er saß da und rauchte die Pfeife, es war doch besser, mich nicht umzubringen und ihn abzuwarten, sagte ich mir. Wir waren daran, uns von Ettendorf aus ein neues Paradies zu eröffnen, ein ebensolches wie in Seekirchen, daß es ein bayerisches und kein österreichisches war, störte aufeinmal nicht. Die Erinnerung an Seekirchen, ja, was meinen Großvater betrifft, an Wien, war noch immer die Hauptsache. Aber langsam war der Übergang in die oberbayerische Idylle gelungen. Sie hatte ihre großen Vorzüge. Sie war zwar katholisch, erzkatholisch, nazistisch und erznazistisch, aber sie war, wie die Gegend um den Wallersee, voralpenländisch und also den Intentionen meines Großvaters durchaus zuträglich, sein Geist wurde nicht, wie befürchtet, erdrückt, sondern, wie sich später gezeigt hat, beflügelt. Er arbeitete mit größerem Schwung als in Seekirchen, und er sagte, tatsächlich sei er jetzt in die entscheidende Phase als Schriftsteller eingetreten, er habe eine gewisse philosophische Höhe erreicht. Ich wußte nicht, was das bedeutete. Es hieß immer nur, er sei an seinem großen Roman, und meine Großmutter unterstrich diese immer nur flüsternd vorgetragene Bemerkung mit den Wörtern
über tausend Seiten soll er lang werden
. Es war mir vollkommen rätselhaft, wie ein Mensch sich hinsetzen und tausend Seiten schreiben kann. Schon hundert zusammengebrachte waren mir vollkommen unverständlich. Andererseits höre ich noch, wie mein Großvater sagte,
alles was man schreibt, ist ein Unsinn
. Also wie kann er auf die Idee kommen, Tausende Seiten Unsinn zu schreiben. Er hatte immer die unglaublichsten Ideen, aber er fühlte, daß er an diesen Ideen scheiterte. Wir scheitern alle, sagte er immer wieder. Das ist auch mein fortwährender Hauptgedanke. Naturgemäß hatte ich keine Ahnung, was Scheitern ist, was Scheitern bedeutet, bedeuten kann. Obwohl ich selbst bereits einen Prozeß des Scheiterns durchmachte, unaufhörlich, ich scheiterte sogar mit einer unglaublichen Konsequenz: in der Schule. Meine Bemühungen nützten nichts, meine immer neuen Anläufe, mich zu verbessern, erstickten im Keim. Meine Lehrer hatten keine Geduld und stießen mich da, wo ich aus ihm herausgezogen werden hätte sollen von ihnen, immer noch
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