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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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mir bei seiner Frau sofort nützlich gewesen und umgekehrt. An jedem zweiten Unterrichtstag versammelten sich in der Pfeifergasse mehrere Schüler meiner Lehrerin, allen voran ist mir der Sohn des Karosseriebauers Petschko aus der Glockengasse in Erinnerung, ein Bariton, mit dem ich jahrelang Duette gesungen habe, dann die Tochter eines angesehenen und weltweit berühmten Spediteurs in der Stadt, die an den Wochenenden ihren zarten Sopran beisteuerte, und eine Altistin aus Bayern. Wir haben alle einschlägigen Duette und Terzette und Quartette gesungen und waren zu unserem eigenen Gaudium und zur Freude der Verwandten und Bekannten meiner Mitschüler öfters in den Salons der Eltern meiner Mitschüler in Hauskonzerten aufgetreten, in welchen wir die Publikumsscheu ablegen und uns auf das Natürlichste (so unsere Lehrerin) präsentieren sollten. Werner, der Musikwissenschaftler aus Hannover, der, wie an anderer Stelle schon angedeutet, im Krieg seinen ganzen Besitz, aber nicht seine Liebenswürdigkeit verloren hatte, ging nach jedem Konzert an den späteren Nachmittagen mit einer feinsäuberlich mit der Hand geschriebenen Kritik, mit einem kleinen Meisterwerk, wie ich heute weiß, aus der Pfeifergasse über den Mozartplatz und durch die Judengasse und über die Staatsbrücke und in die Paris-Lodron-Straße in die Zeitungsredaktion des
Demokratischen Volksblatts
, das seine Gedanken, die immer die außerordentlichsten Gedanken gewesen sind, abdruckte. Er war nichts weniger als ein Musikwissenschaftler
und
Philosoph, was die Redakteure und die Leser des
Demokratischen Volksblatts
, der einzigen sozialistischen Tageszeitung in der Stadt, zwar hochgeschätzt, aber niemals begriffen haben. Er, Werner, war immer korrekt in einen maßgeschneiderten Anzug mit Weste gekleidet gewesen, und er hatte großen Wert auf blankgeputzte Schuhe gelegt, und er trug eine Taschenuhr mit einer auffallend langen Kette in der Weste. Er trank gegen Abend, hinter einem sogenannten Glasverschlag in der Küche, die auch als winterlicher und als sommerlicher Aufenthaltsraum gemütlich gewesen war, sein Viertel Rotwein und verschwand dann in seinem Arbeitszimmer und komponierte. Das Verhältnis der beiden, eine glückliche Ehe zweier gänzlich verschiedener Menschen, war, wenigstens für mich, der ich nichts Dagegensprechendes gesehen habe, das beste. Auch in ihrem Fall hatte sich das allgemeine Weltkriegsunglück ausgezahlt. An den Wänden in ihrem Hause, dem Vaterhaus meiner Gesangslehrerin, hatte ich ihre Epoche ablesen können, die zu diesem Zeitpunkt im Grunde längst vorüber gewesen war. Die Ölbilder und die vielen Kupferstiche gefielen mir, im ganzen Haus war alles, zu einer Zeit, in der überhaupt nichts mehr intakt gewesen war, intakt. Es war alles ein Widerspruch. Es war, als ginge ich auf dem Weg in die Pfeifergasse durch eine chaotische und verabscheuungswürdige Welt in eine intakte, eine von diesem Chaotischen nicht berührte. Aber wahrscheinlich täuschte ich mich. Wenn ich die Steintreppen in dem kahlen und kalten Vorhaus hinaufstieg, empfand ich es als Reinigung, als Reinigung meines ganzen Wesens. Dann läutete ich, und ich wurde hineingelassen, meistens wurde mir mit dem rechten Zeigefinger vor dem Mund der Frau Werner, geborener Keldorfer, angedeutet, daß ich nur leise zu sprechen habe, denn der Musikwissenschaftler komponiere. Dann ging es auf Zehenspitzen in den Salon und an den Steinway. Alle Anweisungen waren geflüstert, es war, wie man sagt, totenstill. Nach einiger Zeit klopfte es an die Tür, der Musikwissenschaftler hatte seine Aufgabe beendet, vielleicht gerade seine Kritik über das letzte Konzert geschrieben, der Klavierauszug wurde aufgeschlagen, und wir fingen an. Meine Stimme war stark, und ich hätte mit ihr unter Umständen ohne weiteres den Salon zerschmettern können, so dachte ich, ganz im Widerspruch zu meinem mageren, hochaufgeschossenen Körper, der zu dieser Zeit, Kennzeichen von Wahnsinn
und
Pubertät, fast immer mit einem Ausschlag bedeckt gewesen war. Ich liebte die Pfeifergasse, und ich liebte die Menschen in ihr. Meine Lehrerin hatte eine, wie gesagt, ganz außerordentliche Karriere gemacht, sie hatte es, glaube ich, nicht notwendig, aus Geldnot zu unterrichten, sie gab ihre Stunden uneigennützig. Schon nach kurzer Zeit hatte sie mich in mehrere Kirchen in der Stadt vermittelt, und ich sang dort an vielen Sonntagvormittagen in der Messe. Zähigkeit, Disziplin, Unermüdlichkeit vorausgesetzt,

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