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Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)

Titel: Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Bernhard
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eine Existenzmöglichkeit erinnerte. In der Festspielzeit erschien er schon am Nachmittag in einem schwarzen Anzug, damit er gleich nach Geschäftsschluß in das Konzert gehen konnte, ohne Umweg nachhause, und die Partitur der jeweils von ihm besuchten Konzerte war seine unumgängliche Ausrüstung. Nach jedem Konzertabend war er, wie man sagt, ein anderer Mensch gewesen, und tagelang war, was er gehört hatte, noch in ihm. Er verstand sehr viel von Musik, wie ich heute weiß, mehr als so mancher Musikwissenschaftler, den ich kenne. Auch im Keller war ich schließlich nicht ohne Gegensatz ausgekommen, ich erinnerte mich der Musik und an meine unrühmlich beendete Karriere auf der Geige. Ich hatte inzwischen ein neues Instrument erprobt, meine Stimme. Die Mutation hatte mir eine Baßbaritonstimme geschenkt. Wenn ich allein war, übte ich mich in bekannten und selbsterfundenen Opernmelodien, was ich auf meiner Geige versucht hatte, jetzt war es in der beinahe völligen Finsternis des Magazins oder im Nebenzimmer des Geschäfts oder auf dem Mönchsberg gesungen. Ich hatte nicht die Absicht, mein ganzes Leben im Keller zu bleiben, wenn ich auch keinerlei Vorstellung meiner Zukunft hatte, der Keller war keine lebenslängliche Selbstauferlegung und Selbstverurteilung und Selbsteinkerkerung. Und sollte ich mein ganzes Leben in diesem oder in einem anderen Keller verbringen oder zubringen müssen, es war nicht vorauszusehen, so war es umso notwendiger gewesen, daß ich einen Gegensatz hatte. Die Musik war der meinem Wesen und meinem Talent und meiner Neigung entsprechendste Gegensatz. Ob aus Eigeninitiative oder auf meinen Wunsch, weiß ich nicht mehr, mein Großvater hatte in einer Zeitung ein Inserat aufgegeben, in welchem er einen Gesangslehrer für mich suchte, schon hatte er mich als eine Art Salzburger Schaljapin gesehen, und das Kennwort des Inserats, ich erinnere mich genau, war das Wort
Schaljapin
gewesen, von Schaljapin als dem berühmtesten Bassisten seiner Zeit hatte mir mein Großvater oft erzählt, er haßte die Oper und alles, was mit der Oper zusammenhing, aber die urplötzliche Möglichkeit, daß sein geliebter Enkel vielleicht ein berühmter Sänger wird, betrachtete mein Großvater doch als ein großes Glück. Er hatte eine besondere Vorliebe für Anton Bruckner, mehr weil ihm das bäuerliche Wesen Bruckners verwandt gewesen war, nicht weil er von der Musik Bruckners begeistert gewesen wäre, alles in allem waren seine Musikkenntnisse die unzureichenden des gelegentlichen Musikliebhabers. Er war, wie alle meine Verwandten, musikalisch, aber die Musik hatte bei ihm keinen höheren Stellenwert. Aber jetzt empfand er wahrscheinlich mein früheres Geigenspielen als das willkommene Fundament einer Gesangsausbildung, für die er sich, kaum war die Idee dafür aufgetaucht, vehement einsetzte. Er fühlte, daß ich, auch wenn mir das gleich und im Grunde vielleicht sogar recht gewesen war, ohne einen Gegensatz dazu im Keller verkümmern müsse, und alles mich Betreffende hatte sich in ihm auf einmal auf meine Sängerausbildung konzentriert. Er hatte festgestellt, daß ich eine brauchbare, entwicklungsfähige Singstimme hatte, und ich war von diesem Moment an für ihn nicht mehr, wie er naturgemäß schon geglaubt hatte, hundertprozentig an den reinen verabscheuungswürdigen Materialismus verloren, er konnte sein zuletzt für mich gesetztes Ziel:
Kaufmann
in
Sänger
erhöhen, was bedeutete, daß ich aufeinmal die Möglichkeit hatte,
Künstler
zu sein. Augenblicklich war der Kaufmann gestürzt und der Sänger auf sein Podest erhoben, obwohl: was war im Grunde gegen einen guten Kaufmann zu sagen? Was spricht im Grunde für einen Sänger? Es war ihm aber in der Möglichkeit, daß aus mir ein Sänger, und sei er selbst ein solcher in der von ihm zeitlebens verabscheuten Oper, wird, wohler als in dem Gedanken, ich sei nur ein Kaufmann. Plötzlich hatte er immer per
nur ein Kaufmann
gesprochen, wenn er vom Kaufmann gesprochen hat, dagegen mit größter Bewunderung vom Sänger, und er hatte, mit der gleichen Überzeugungskraft und mit dem gleichen Enthusiasmus, mit welchem er vorher immer vom Kaufmann gesprochen hatte, aufeinmal vom Sänger gesprochen, und er vertiefte sich in die Musikgeschichte, um möglichst alles und möglichst das Hervorragende über die Sänger zu erfahren. Mit der Welt des Schaljapin und mit der Welt des Caruso und mit der Welt der Tauber und Gigli, die ihm im Grunde nichts anderes als

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