Die Rose von Darjeeling - Roman
Jersey
August 1990
Natürlich wollte Lady Kathryn ihr Geheimnis nicht mit ins Grab nehmen. Sie saß vor dem Spiegel ihrer französischen Frisierkommode und bürstete kräftig durch ihr immer widerspenstiger werdendes, kinnlanges weißes Haar. Mit der Morgenluft wehte ein Duft von Rosen und Petunien durch die geöffneten Fenster herein. Nein, die Zeit war reif. Seit sechzig Jahren, seit sie gewusst hatte, dass sie schwanger war, rang Kathryn mit sich, wann und wie sie es ihrer Familie sagen sollte. Bei einem feierlichen Candle-Light-Dinner? Oder bei gedecktem Apfelkuchen zum Nachmittagstee in ihrer Sitzecke neben dem Rhododendronsolitär – am besten noch zur Hauptblütezeit? Manchmal dachte sie mehrmals am Tag darüber nach, stellte sich vor, wie ihr Vater, ihr Mann, und dann, nachdem beide gestorben waren, ihr Sohn Charles, die Schwiegertochter und ihr Enkel darauf reagieren würden.
Am Tag von Charles’ Geburt hatte sie sich vorgenommen, es ihm zu sagen, wenn er die Volljährigkeit erreicht hätte. Doch ausgerechnet dann geschah etwas, das für eine kurze Zeit erneut ihre Welt aus den Angeln hob. Als sie sich allmählich wieder in gewohnter Weise zu drehen begann, musste Kathryn ihre Enthüllung erneut verschieben, weil es ihr sonst niemals gelungen wäre, zur Normalität zurückzukehren.
Die Sonne schien jetzt in den Spiegel und blendete sie. Kathryn stand auf, um den alten geblümten Vorhang aus indischer Seide vorzuziehen. Er stammte aus einem der vornehmsten Geschäfte Kalkuttas, immer noch verliehen die verwegenen pinkfarbenen Blumen ihrem ansonsten in Resedagrün und Cremetönen gehaltenen Privatsalon einen Hauch Poesie. Sie stieß mit dem Ellbogen gegen ihre Harfe, die in der Ecke stand. Ein tiefer Ton schwang nach, etwas Staub wirbelte auf. Ach, ja, schade, lange hatte sie nicht gespielt, aber vielleicht könnte sie bald wieder einmal einen Versuch wagen.
Zwei Jahre hatte es damals gedauert, bis sie das Thema wieder an sich heranlassen konnte. In den Wechseljahren schwor sie sich, ihr Geheimnis allerspätestens an ihrem achtzigsten Geburtstag preiszugeben. Das hätte immerhin den Vorteil, dass ihr Vater und ihr Mann Alfred, der selige Lord Taintsworth, es nicht mehr erfahren würden.
Am nächsten Sonntag wurde sie achtzig. Schwer vorstellbar, nun wirklich so alt zu sein. Innerlich fühlte sie sich auch heute noch phasenweise wie eine junge Frau, manchmal auch wie fünf oder wie hundertzwanzig oder zeitlos. Meist musste sie eine Weile überlegen, wenn sie irgendwo ihr Alter angeben sollte.
»Du wirst achtzig, altes Mädchen!«, sagte sie ungläubig zu ihrem Spiegelbild, einer freundlichen Seniorin mit gewelltem Bubikopf, tiefem Seitenscheitel und niedrigem Haaransatz.
Ihre Stimme klang immer noch, wie schon in ihrer Jugend, leicht rauchig. Der helle Teint, übersät mit Sommersprossen und Altersflecken, fältelte sich reichlich, aber fein wie ein Strahlenkranz um die Augen und an den Wangenpartien. Dem gealterten Hals gönnte sie keinen längeren Blick mehr. Die wohlgeformte gerundete Nase war immer noch etwas zu kurz, obwohl ihr Vater ihr als Kind versprochen hatte, ihre Nase würde niemals aufhören zu wachsen. Sie schmunzelte. Der Blick ihrer grünen Augen unter den kräftigen Brauen (die sie beim Friseur dunkelblond nachfärben ließ) konnte blitzschnell von Melancholie zu Belustigung wechseln, doch meist war er gütig und wohlwollend. Kathryn trat einen Schritt zurück. Früher war sie mittelgroß gewesen, heute galt sie eher als klein.
»Bist geschrumpft, musst dich gerader halten!«, mahnte sie die Lady im hellgrauen Hemdblusenkleid mit den bequemen Pumps. »Nimm dir ein Beispiel an Queen Mom.« Ihr Spiegelbild winkte sogleich ab. Man konnte doch froh sein, dass es überhaupt wieder ging mit dem Gehen. Seit den Rheumaschüben im Winter hatte sich ihr Zustand erfreulich gebessert. Gnädig nickte sie sich zu. »Du wirst tatsächlich achtzig.« Punkt. Und keine Ausreden mehr!
In vier Tagen würde die Bombe platzen. Der Skandal würde nicht nur in Adelskreisen und bei Cocktailempfängen der Upperclass von Jersey, sondern bis in die Markthalle von Saint Helier, der Hauptstadt der Insel, für Gesprächsstoff sorgen! Selbst die wortkargen Hummerfänger im Hafen am alten Schlachthof würden beim Ausbessern ihrer Körbe darüber ratschen und sicher glatt vergessen, ihre Zahnlücken zu verbergen.
Kathryn gluckste unterdrückt in sich hinein. Ihr Sinn für Humor hatte ihr geholfen, viele dramatische
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