Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
meinte sie, stünde auch meiner großen Karriere als Sänger nichts im Wege. Es dauere noch ein paar Jahre, aber wie ich wisse, eile die Zeit. Schöne und gute Stimmen gebe es genug, aber kaum jemals eine Persönlichkeit. Sollte ich eine solche Persönlichkeit sein? Sie hatte ja nicht gesagt, ich
sei
eine solche Persönlichkeit. Sie war unnachgiebig, genau, hörte den kleinsten Fehler. Solange dieser kleinste Fehler nicht ausgemerzt war, ging der Unterricht nicht weiter. Manchmal hatte sie mir gedroht, den Unterricht abzubrechen, mich überhaupt nicht mehr weiter zu unterrichten, weil sie genug von meiner Indolenz, von meiner Faulheit habe. Aber solche Drohungen gingen vorüber. Zuhause begegneten sie meiner Wiederentdeckung und also meiner zweiten Entdeckung der Musik mit Ablehnung, sie betrachteten meine Bemühungen als Zeit- und Geldverschwendung, und die Argumente meines Großvaters, der mich, wo und wie er nur konnte, hundertprozentig unterstützte, überzeugten sie nicht. Kaum sei ich auf einem, wie sie jetzt schon eine Zeitlang geglaubt hatten, richtigen und das heißt ordentlichen, weil für sie durchschaubaren und ausdenkbaren Weg, verirrte ich mich in eine Narretei, wie sie es nannten, und machte wieder alles zunichte. Ihr Argwohn aus Mangel an Weitblick und ihre tatsächliche Unbildung waren, was immer ich tat, worin immer ich mich versucht hatte, gegenwärtig. Aber ich hatte zuviel Kraft geschöpft in der Zwischenzeit, um, von ihnen schwankend gemacht, umgeworfen zu werden. Ich hatte die äußerste Willenskraft und alle anderen Kräfte zusammengenommen und war entschlossen, mich von jetzt an von nichts mehr irritieren zu lassen. Sie hatten alle an mir gezogen und gezerrt, und sie hatten mir alle Behinderungen zuteil werden lassen, die ihnen möglich gewesen waren, aber ich war absolut unbeirrbar. Ich verdiente mir im Keller meine Lehrlingsentschädigung und mit der Lehrlingsentschädigung meine musikalischen Studien und war im übrigen in dieser Zeit vollkommen anspruchslos, um herauszukommen und weiterzukommen, wo heraus und wohin weiter, hatte ich nicht mehr zu fragen, und zurückzuschauen gestattete ich mir nicht mehr. Ich mußte in die Scherzhauserfeldsiedlung und in den Keller gehn, um in die Pfeifergasse zu gelangen und um Arien singen zu können und glücklich zu sein. An den Abenden stieg ich auf den Mönchsberg hinauf und setzte mich unter eine Baumkrone und dachte an nichts und beobachtete und war glücklich. Ich hatte einen Lieblingsplatz über der Felsenreitschule, von welchem aus ich mir die unten in der Felsenreitschule aufgeführten Opern anhören konnte. Die Zauberflöte, die Oper, die in meinem Leben die erste Oper ist, die ich gehört und gesehen habe und in welcher ich gleich drei Partien gesungen habe, den Sarastro, den Sprecher und den Papageno. In dieser Oper, die ich in meinem Leben so oft als möglich gesehen und gehört habe, hatten sich mir alle musikalischen Wünsche auf die vollkommenste Weise erfüllt. Da saß ich unter dem Baum und hörte zu, und nichts auf der Welt hätte ich eingetauscht für diese Empfindung. Oder Orpheus und Eurydike von Gluck, für die ich meinen Verstand ausgeliefert hätte. Jahrelang war ich auf den Mönchsberg gestiegen, um die Proben zu den in der Felsenreitschule aufgeführten Opern mitanzuhören. Jahrelang hatte ich auf diese Weise mein Musikstudium bereichern, intensivieren, vervollkommnen können. Später habe ich an den Proben selbst teilgenommen, und ich habe in mehreren Aufführungen der Festspiele, in Messen und Oratorien, gesungen. Aber dahinein und dazwischen hatte sich urplötzlich eine andere Zeit geschoben. Im dritten Lehrjahr, an einem Oktobertag, ich war über siebzehn, fast achtzehn Jahre alt, hatte ich einen mit mehreren Tonnen Erdäpfeln angefüllten Lastwagen vor dem Geschäft abzuladen. In dem pausenlosen Schneetreiben hatte ich mich erkältet. Eine schwere Grippe war die Folge gewesen. Ich lag mehrere Wochen zuhause im Bett unter hohem Fieber, bis mir dieser Ausnahmezustand zu dumm gewesen war. Ich stand, obwohl ich noch Fieber hatte, auf und ging ins Geschäft und mußte die Rechnung für diese eklatante Dummheit bezahlen. Zurückgeworfen in eine Krankheit, die mich über vier Jahre lang an Krankenhäuser und Heilanstalten gefesselt hat, schwebte ich, wie man sagt, einmal mehr, einmal weniger besorgniserregend, zwischen Leben und Tod. Von meinem Großvater habe ich die lebenslängliche Gewohnheit, früh und fast immer vor fünf
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