Die Autobiographie: Die Ursache / Der Keller / Der Atem / Die Kälte / Ein Kind (German Edition)
wir schon beinahe unverletzlich und unverletzbar geworden, wir nehmen die Verletzungen wahr, aber wir sind heute nicht mehr so überempfindlich wie früher. Wir teilen härtere Schläge aus, und wir halten härtere Schläge aus. Das Leben spricht eine kürzere, vernichtendere Sprache, die wir selbst heute sprechen, wir sind nicht mehr so sentimental, daß wir noch Hoffnung hätten. Die Hoffnungslosigkeit hat uns Klarheit verschafft über Menschen, Gegenstände, Verhältnisse, Vergangenheit, Zukunft undsofort. Wir haben das Alter erreicht, in welchem wir selbst der Beweis sind für alles, was uns zu unseren Lebzeiten zugestoßen ist. Was mich betrifft, habe ich drei Erfahrungen gemacht, die Erfahrung meines Großvaters und die Erfahrung aller anderen für mich weniger wichtigen Mitmenschen und die eigene. Die eine mit den andern zusammen hat mir die vielen Anfälligkeiten für das Nebensächliche erspart. Ich darf nicht leugnen, daß ich auch immer zwei Existenzen geführt habe, eine, die der Wahrheit am nächsten kommt und die als Wirklichkeit zu bezeichnen ich tatsächlich ein Recht habe, und eine gespielte, beide zusammen haben mit der Zeit eine mich am Leben haltende Existenz ergeben, wechselweise ist einmal die eine, einmal die andere beherrschend, aber ich existiere wohlgemerkt beide immer. Bis heute. Hätte ich, was alles zusammen heute meine Existenz ist, nicht tatsächlich durchgemacht, ich hätte es wahrscheinlich für mich erfunden und wäre zu demselben Ergebnis gekommen. Die Zwangslage hat mich an jedem neuen Tag und in jedem neuen Augenblick weitergebracht, die Krankheiten und schließlich, viel später, die Todeskrankheiten haben mich aus der Luft heruntergeholt auf den Boden der Sicherheit und der Gleichgültigkeit. Ich bin mir heute ziemlich sicher, auch wenn ich weiß, daß alles das Unsicherste ist, daß ich nichts in der Hand habe, daß alles nur eine wenn auch immer wieder und allerdings ununterbrochene Faszination als verbliebene Existenz ist, und es ist mir heute ziemlich alles gleichgültig, insoferne habe ich tatsächlich in dem immer verlorenen Spiel auf jeden Fall meine letzte Partie gewonnen. Die Illusionen meines Großvaters habe ich nicht gehabt, den gleichen Irrtümern wie er bin ich nicht ausgekommen. Die Welt ist nicht so wichtig, wie er geglaubt hat, und alles in ihr hat keinen solchen von ihm lebenslänglich befürchteten Wert, und die großen Worte und die großen Wörter habe ich immer als das genommen, was sie sind: Unzuständigkeiten, auf die man nicht hören darf. Die Armut, auf die er hereingefallen ist und die ihm sein Leben verbittert hat, hat mich nicht überzeugt, und der Reichtum, von dem er geträumt hat, ebensowenig. Die Wege, die ich gegangen bin, waren von ihm, meinem Großvater, schon begangen, das war und ist mein Vorteil, ich hatte die Möglichkeit zu einem intensiveren Studium. Die Platitüde und die Phrase von den Armen in den Reichen und umgekehrt habe ich für mich sehr früh um eine neue Platitüde und um eine neue Phrase erweitert, um die Dummheit des Intelligenzlers. Der Fassungslose hätte immer die Möglichkeit gehabt, dem Theater, auf das er lebenslänglich hereingefallen war, durch das Zertrümmern und Vernichten der Requisiten und Requisiteure und aller Akteure ein Ende zu machen, aber er hatte nicht die Kraft dazu. Mein Großvater haßte die Oper, und er bewunderte das Schauspiel, aber weder die Oper ist zu hassen noch das Schauspiel zu bewundern, wie die einen und die anderen Menschen nicht. Zwischen Haß und Bewunderung zerstören sich beinahe alle Menschen, und mein Großvater hat sich in seinen achtundsechzig Lebensjahren von diesen beiden Begriffen zermalmen lassen. Jedem anderen, außer mir, wäre er ein Wegbereiter gewesen, aber ich war niemals ein Mensch für einen Weg. Ich bin keinen Weg gegangen im Grunde, wahrscheinlich, weil ich immer Angst gehabt habe davor, einen dieser endlosen und dadurch sinnlosen Wege zu gehen. Wenn ich wollte, habe ich mir immer gesagt, könnte ich. Aber ich bin nicht gegangen. Bis heute nicht. Es ist etwas geschehen, ich bin älter geworden, ich bin nicht stehengeblieben, aber ich bin auch nicht einen Weg gegangen. Ich spreche die Sprache, die nur ich allein verstehe, sonst niemand, wie jeder nur seine eigene Sprache versteht, und die glauben, sie verstünden, sind Dummköpfe oder Scharlatane. Ist es mir Ernst, ist es ein unverstandener, in jedem Fall immer mißverstandener, für den höheren Witz gibt es, scheint
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