Die Bärenkralle: Thriller (German Edition)
Haaransatz bis zum Hals, das halbe Gesicht. Auf Höhe der Wange hing etwas, das ein Auge sein musste. Seine helle Jacke war mit Blutspritzern übersät. Der Mann hielt sich am Zeitungsständer fest und schien etwas sagen zu wollen, doch die dumpfen Laute, die aus dem blutigen Mund drangen, waren völlig unverständlich. Er hob einen Arm. Etwas hing daran, befestigt an einer Handschelle. Es sah aus wie eine Hand und der Teil eines Unterarms.
Der Mann hinter der Theke wich ein paar Schritte in den angrenzenden Raum zurück, warf die Tür zu und drehte den Schlüssel um. Mit zitternden Händen zog er sein Handy aus der Brusttasche und verständigte die Polizei.
69
I n der Nacht zum 27. Oktober kam es um 01.10 Uhr in der Gemeinde Åsnes in Hedmark zu einem bewaffneten Polizeieinsatz. In den nördlich von Åmoen gelegenen Wäldern umstellte ein Sonderkommando die Hütte des Polizeikommissars Arve Norbakk aus Oslo. Sowohl Scharfschützen als auch eine Hundestaffel machten sich bereit.
Die Tür sowie zwei Fenster standen sperrangelweit offen. Der Einsatzleiter forderte alle Menschen, die sich in der Hütte befanden, mit dem Megaphon auf, diese sofort zu verlassen. Als nichts geschah, wiederholte er diese Aufforderung. Ohne Erfolg. Um 02.23 Uhr wurde die Hütte von Scheinwerfern, die an den Einsatzfahrzeugen befestigt waren, in gleißendes Licht getaucht und von drei Seiten aus gestürmt. Derjenige, der durch die Tür eindrang, rief etwas in die Hütte hinein. Nichts geschah.
»Ich höre ein Geräusch«, meldete er über Kopfhörer. »Hört sich an wie ein wimmerndes Kind.«
Er bekam das Signal zum Zugriff. Die gesamte Hütte stank nach Verwesung. Das Wohnzimmer war leer. Die Küche und ein Schlafzimmer ebenso. Die Tür zum Nebenzimmer war verschlossen und wurde gesichert. Die Bodenluke zum Keller stand offen. Von dort kam das Geräusch. Einer der drei Beamten, die in die Hütte eingedrungen waren, legte sich flach auf den Bauch und robbte zur Öffnung. Der Gestank nahm zu. An der Kellerdecke hing eine Lampe, die den Raum notdürftig erhellte. Der Keller war sehr viel tiefer, als man von außen vermutete, stellte der Polizist fest. Ein Metallgitter teilte ihn in zwei Hälften. Er beugte sich weiter nach vorne und hielt seine Taschenlampe in die Tiefe. In einer Ecke hinter der Leiter, die nach unten führte, saß eine gekrümmte Gestalt, die sich im Lichtkegel langsam umdrehte. Der Polizist blickte in ein bleiches, breites Gesicht. Aus den schräg stehenden Augen schienen Tränen herunterzulaufen. Der Unbekannte wiegte etwas in den Armen. Es war etwa so groß wie eine Puppe. Hinter ihm lag ein Körper mit verdrehten Gliedmaßen.
»Was tun Sie da unten?«
Er bekam keine Antwort. Ein Kollege hatte sich zu ihm gesellt.
»Ich geh nach unten. Der Kerl ist mongoloid. Aber da scheint noch eine andere Person zu sein. Vermutlich ist sie nicht bei Bewusstsein.«
Er sprang hinunter ins Halbdunkel, in der einen Hand die Pistole, in der anderen die Lampe.
»Sie können so nicht sitzen bleiben. Was haben Sie da?«
Er leuchtete auf das Bündel in seinen Armen. Anfangs konnte er nicht erkennen, was es war. Doch plötzlich wich er zurück und klammerte sich an die Leiter. Der Lichtkegel war immer noch auf das Gesicht eines abgetrennten Kopfes gerichtet.
Um 04.15 Uhr waren die Überreste der beiden Toten, die in der Hütte gefunden worden waren, nach draußen gebracht worden. An einer Kellerwand lag ein Haufen mit Exkrementen. Die Experten vom Jagdausschuss zweifelten nicht, von welchem Tier diese stammten. Die Spuren, die sie in und um die Hütte herum entdeckt hatten, bestätigten dies. In Anbetracht der Verletzungen der Opfer lag die Todesursache auf der Hand.
Sobald es hell genug war, wurden vier Jagdtrupps in den Wald geschickt. Es sollte drei Tage lang dauern, ehe sie den Bären aufgespürt hatten, der sich vermutlich in der Hütte aufgehalten hatte. Er wurde erschossen und obduziert. In seinem Magen wurden menschliche Überreste gefunden.
*
Am 27. Oktober um 12.00 Uhr fand im Polizeipräsidium Oslo eine Pressekonferenz statt. Der Konferenzraum im dritten Stock platzte vor Journalisten aus allen Nähten. Mehr als ein Drittel von ihnen gehörte ausländischen Medien an. Die Polizei wurde durch den Polizeipräsidenten, den Polizeidirektor sowie die Leiterin des Dezernats für Gewaltverbrechen vertreten. Agnes Finckenhagen gab zunächst einen Überblick über die sogenannten Bärenmorde, die nunmehr als aufgeklärt
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