Die Ballonfahrerin des Königs
der Hauch eines Lächelns.
***
|286| «Und, wie findest du mich?», fragte Marie-Provence und drehte sich in alle Richtungen, wobei sie darauf achtete, nicht an
den schrägen Wänden des Mansardenzimmers anzustoßen.
«Wie hast du das gemacht? Das mit deinen Haaren, meine ich.»
Marie-Provence griff zu einem Handspiegel und begutachtete die kurzen Locken, die an ihrem Hinterkopf hochgesteckt waren und
locker ihr Gesicht umrahmten. «Das hat mir Thérésia gezeigt. Sie sagt, das sei die allerneuste Mode, eine Hommage an die Opfer
der Guillotine und Inspiration aus dem antiken Griechenland. Die modischen Damen, die etwas auf sich halten, tragen heute
alle die Frisur
à la victime
. Sie lassen sich sogar die Haare dafür abschneiden!» Leiser fügte sie hinzu: «Es ist gut, oder? So fällt es gar nicht mehr
auf …»
«Nein. Es ist wundervoll», sagte André warm und strich über ihre bloßen Arme. «Aber das Kleid …»
«Was ist? Es gefällt dir nicht?», fragte Marie-Provence. Sie zupfte am hauchdünnen weißen Gazestoff. Das Kleid hing wie eine
Tunika von ihren Schultern; es öffnete sich in einem großzügigen Ausschnitt und ergoss sich in weichen Falten bis weit über
die Füße. Zwei Perlen, die jeweils die nur fingerlangen, transparenten Ärmel zusammenhielten, eine seidig schimmernde Bordüre
an Ausschnitt und Saum sowie ein dünner geraffter Schal aus jadegrüner Atlasseide, der unter der Brust festgebunden war, bildeten
die einzigen Verzierungen.
André räusperte sich. «Doch, es gefällt mir, chérie, aber – willst du so auf die Straße gehen?»
«Wenn man möchte, kann man einen Schal darübertragen, leger über die Armbeugen drapiert», erklärte Marie-Provence gnädig.
«Und dazu fasst man den überlangen hinteren Saum, wie eine Schleppe. Siehst du?» Sie machte es ihm vor und stolzierte ein
paarmal das winzige Zimmer auf und ab.
André fuhr mit einem Zeigefinger zwischen Kragen und Hals. «Darüber. Ja. Sehr schön. Und was ist mit darunter?», |287| fragte er. «Ich meine … Also, das Ganze ist ziemlich transparent.»
Sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. «Das ist eben die neue Kunst: angekleidet zu sein, ohne danach auszusehen. Die
neue Nonchalance.» Sie verschränkte ihre Finger in seinem Nacken. «Man trägt kein langes Unterkleid mehr, weißt du. Und statt
eines langen, steifen Korsetts nur noch eine Art Gurt – hier oben, wo das Band hängt. Wenn du wüsstest, wie herrlich befreit
es sich jetzt atmen lässt!» Zum Beweis machte sie ein paar tiefe Atemzüge.
Andrés Blick folgte gebannt der Bewegung ihres Brustkorbes und der neckischen Gazefalte, die sich in ihrem Ausschnitt im Takt
öffnete. «O Marie», seufzte er, «was hast du bloß für eine Meinung von mir? Bin ich aus Stein? Glaubst du allen Ernstes, ich
kann im Salon von Madame Cabarrus über die Vorzüge des Kautschuks bei der Abdichtung von Flugkörpern referieren, wenn du zur
gleichen Zeit in dieser Aufmachung vor mir hertändelst?»
Sie knabberte zärtlich an seinem Ohr. «Es wird dir nichts anderes übrigbleiben, mon chéri. Thérésia meint, die neue Mode stehe
mir ausgezeichnet. Und sie hat mir das Kleid geschenkt unter der Bedingung, dass ich es zu dem Empfang trage, den sie in einer
Woche gibt, und zu dem, wie sie sagte, alles kommen wird, was einen alten oder einen neuen Namen hat.»
Mit Freude dachte sie an ihr Wiedersehen mit Thérésia zurück. Obwohl Marie-Provence unangemeldet bei ihr vorgesprochen hatte,
war die junge Frau bei der Nennung ihres Namens sofort die Treppe ihres herrschaftlichen Hauses heruntergerannt, um sie in
die Arme zu schließen. «Marie-Provence! Ich war so in Sorge um dich! Ich habe von deiner Befreiung gehört – man sagt, die
Menge habe dich im Triumph zur maison de la couche zurückgebracht! Du musst mir alles darüber erzählen, die ganze Stadt spricht
davon!»
So kam es, dass sie mit der jungen Bankierstochter einen guten Teil des Nachmittages verbracht hatte, vor Tellern mit erlesenen
Köstlichkeiten, deren Existenz Marie-Provence |288| in den zwei Jahren der Entbehrungen schon fast vergessen hatte und denen Thérésia gewiss einen Teil ihres neuen, blühenden
Aussehens verdankte. Es war herrlich gewesen, zu kichern, Klatsch zu hören und über die Extravaganzen der neuen Mode zu staunen,
die die Kunst des angezogenen Nacktseins feierte und der krasse Gegensatz zu den steifen, prächtigen Kleidern war, die
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