Die Ballonfahrerin des Königs
wissen, was es heißt, eine Frau zu sein! Und ich
habe recht getan. Ich bereue es keine Sekunde, und auch dir wird es nicht gelingen, mir ein schlechtes Gewissen einzureden.»
Sanfter fuhr sie fort: «Die Zeiten haben sich geändert, Vater. Ich weiß, was du dir für mich wünschst und dass es immer nur
das Beste war. Aber André ist ein intelligenter, mutiger und sensibler Mann, und ich finde, diese Charaktereigenschaften sind
mindestens genauso viel wert wie ein alter Stammbaum.»
Guy fuhr sich über das Gesicht. «Was habt ihr jetzt vor? Wollt ihr heiraten?»
«Ich habe einmal zu André gesagt, dass ich nicht seine Frau werden könnte, solange Louis-Charles nicht befreit wurde. Daran
hat sich nichts geändert.»
«Soll das heißen, dass wir noch auf dich zählen können?»
«Was hast du denn gedacht?» Marie-Provence schüttelte den Kopf. «Ich weiß nur allzu gut, wie es dem Kleinen geht, Vater. Ich
werde keine Ruhe haben, bis ich ihn da rausgeholt habe, glaub mir! Und André wird uns dabei helfen.»
«Er hat eingewilligt? Hat dein Schicksal ihm endlich die Augen geöffnet? Ist er bereit, für unsere Sache zu kämpfen?»
Was sollte sie antworten? ‹Nein, Vater, das wird er niemals tun, das hat André mir unmissverständlich klargemacht›? Dann würde
er ihr weiter bohrende Fragen stellen, sie zwingen, ihr Vorhaben zu erklären, und höchstwahrscheinlich versuchen, sie davon
abzubringen. Sie aber war fest entschlossen, sich durchzusetzen.
Lass dir von niemandem einreden, du seiest schwach und wehrlos. Wichtig ist nicht, ob man stark ist, sondern ob der andere
es glaubt.
Auch wenn dieser |280| andere der eigene Vater war. Marie-Provence senkte den Blick nicht. «Ich sagte doch: Er wird uns helfen.»
Ihr Vater sah sie ein paar Sekunden lang schweigend an. «Du hast dich verändert, Marie. Sie haben mir mein kleines Mädchen
genommen, in La Force. Und ich gestehe, dass ich noch nicht ganz weiß, was man mir zurückgegeben hat. Ich hoffe nur, dass
du nie bereuen musst, was du tust.»
«Keine Sorge, Vater. Ich habe beschlossen, es zu halten wie alle anderen: nie zurückblicken. Hast du bemerkt, wie die jungen
Leute sich plötzlich wieder in den Theatern drängen, seit die Terrorherrschaft besiegt scheint? Was für frohe Gesichter sie
haben! Sie wollen nur eines: tanzen, sich amüsieren, das Leben genießen, auch wenn zu Hause der Kochtopf leer ist. Und ich
werde mir meinen Teil davon holen. Aber deshalb muss ich noch lange nicht von meinem Weg abweichen.» Mit diesen Worten drehte
sie sich um, nahm ihren Korb und ging zur Tür.
***
Marie-Provence ergriff die schmalen, fingerlangen Bögen, die auf dem Tisch lagen, die sogenannten bulles. Bedrückt zählte
sie sie. Acht Stück …
Die bulle begleitete einen Zögling für die Dauer seines Aufenthaltes im Heim. Auf ihr wurden die Daten der Ankunft vermerkt,
die besonderen Merkmale sowie der Name des Waisenkindes. Das Dokument wurde anschließend mittels einer dünnen Kette um den
Hals des Kindes gehängt und durfte unter keinen Umständen entfernt werden, um eine Verwechslung zu vermeiden. Nur im Todesfall
kamen die bulles zurück und landeten zunächst auf Jomarts Schreibtisch. Der Arzt führte eine Tabelle, in die er die Daten
und die Krankheitsgeschichte der Kinder eintrug, bevor er die Dokumente Madame Mousnier überließ. Seit Marie-Provence hier
arbeitete, waren erschreckend viele neue Namen in die Tabelle eingefügt worden – was auch daran lag, dass die Gelder, die
zur Erhaltung des Heimes dienten, |281| seit den Umbrüchen nur unregelmäßig flossen und deshalb die Ammen ausblieben.
«Versuchen Sie, es sich nicht zu Herzen zu nehmen.»
Marie-Provence sah sich um. Sie hatte den Arzt nicht eintreten hören.
Er deutete auf die Blätter. «Zwei von den Kleinen hatten Syphilis. Sie wissen, wie es ist.»
Marie-Provence nickte wortlos. Kinder, bei denen Syphilis festgestellt worden war, mussten künstlich ernährt werden, da sie
sonst die Ammen anstecken würden, und hatten so gut wie keine Überlebenschancen.
«Ich habe Neuigkeiten für Sie», sagte Jomart, offensichtlich bestrebt, sie abzulenken. «Croutignac wurde von seinem Dienst
im Temple suspendiert. Der Wohlfahrtsausschuss und insbesondere Barras haben ihn durch einen gewissen Jean-Jacques Laurent
ersetzt.»
«Was wird mit Croutignac geschehen?»
«Ich weiß es nicht. Nur wenige von Robespierres Freunden haben die Säuberungsaktion
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