Die Ballonfahrerin des Königs
dem entrückten Blick nicht schon immer dort? Waren es nicht dieselben, die sie jeden
Tag von ihrem Kinderzimmer aus gesehen hatte, als sie endlich groß genug war, um auf das Fensterbrett zu klettern? Sie sog
die feuchtwarme Luft ein. Den Geruch der Seine hätte sie unter allen anderen wiedererkannt: eine unnachahmliche Mischung aus
feuchtem Heu, Fisch, faulen Abwässern, Rauchschwaden und Schwemmholz, Teer, Schlick und derber Seife. Manche Leute verabscheuten
es, dem Fluss zu nahe zu kommen, und auch ihre Mutter hatte sich immer über den Geruch beschwert, der sich in Vorhänge und
Wäsche festsetzte und der so anders war als die würzigen Düfte ihrer südlichen Heimat. Marie-Provence hingegen liebte ihn.
Ihr war das Leben hier immer besonders dicht erschienen. Es lag einem auf der Zunge, beanspruchte alle Sinne.
|293| Ein Zeitungsjunge kam ihnen entgegen, und Guy de Serdaine kaufte ihm eine Ausgabe des
Courrier de l’Égalité
ab.
«Hast du Angst?», fragte er, als sie ein wenig weitergeschlendert waren.
Marie-Provence warf einen Blick nach links, auf die Häuserzeile des quai des Augustins. Nur ein paar Gebäude von dem Markt
entfernt, den man marché de la Vallée nannte und auf dem die Pariser seit fast drei Jahrhunderten Geflügel, Butter und Eier
kauften, stand ihr Elternhaus. Die Fenster spiegelten den wolkenverhangenen Himmel. «Ja, ein wenig», gab sie zu.
«Du kannst es dir immer noch überlegen, Marie. Noch ist es nicht zu spät», sagte ihr Vater, wie bereits mehrere Male zuvor.
Und erneut schüttelte Marie-Provence den Kopf. «Nein, Vater. Meine Angst ändert nichts an meiner Entschlossenheit.» Sie drückte
seinen Arm. «Es muss gemacht werden, das weißt du», versuchte sie, ihn zu beruhigen. «Und ich bin die am besten geeignete
Person, um unser Vorhaben auszuführen: Ich kenne das Haus in- und auswendig, und nur eine Frau kann die Rolle übernehmen,
die ich spielen soll.»
Sie befanden sich inzwischen auf der Höhe der beiden Angler. Ihr Vater näherte sich ihnen, um in ihre Eimer zu spähen.
«Also, die Luft ist rein», murmelte einer der Männer und paffte helle Wolken aus seiner kleinen, dünnen Pfeife. «Croutignac
ist vor einer halben Stunde ausgeflogen, mitsamt seinem Diener Auguste.»
Überrascht starrte Marie-Provence den Mann an. Erst jetzt erkannte sie das bärtige Gesicht des baron de Batz unter der breiten
Krempe.
«Wir haben etwa eine Stunde Zeit», sagte leise der andere Mann, der sein Taschenmesser gezogen hatte, um an einem Stück Treibholz
herumzuschnitzen. Er schabte mit der Klinge über einen seiner vielen Leberflecke und blitzte Marie-Provence spöttisch von
unten an. «Alles klar, Mademoiselle? Haben Sie Ihre Rüstung angelegt?»
|294| Marie-Provence öffnete ihren Umhang, um ihm den Blick auf ihre Kleidung freizugeben. Mit ihrem Vater hatte sie erst einen
langen Kampf bestehen müssen, ehe sie sie anziehen durfte.
Assmendi pfiff leise durch die Schneidezähne. «Fichtre, Mademoiselle», raunte er, «wo haben Sie denn das her?»
«Ein paar Damen aus dem Palais-Égalité verkehren gelegentlich in der maison de la couche, um dort zu entbinden. Eine von ihnen
hat es mir geliehen», berichtete Marie-Provence nicht ohne Stolz.
«Mach den Umhang wieder zu, Marie!», schimpfte ihr Vater leise. «Oder willst du wegen Unzucht im Gefängnis landen?»
«Was sagen Sie zu dem Wetter?», fragte Batz.
Marie-Provence blickte zum Himmel empor, der inzwischen ganz von Wolken bedeckt war. Ein böiger Wind trieb Blätter und Staub
in den Fluss.
«Sieht nach Regen aus. Aber wir können es uns nicht leisten, zimperlich zu sein», sagte Guy. «Ein Teil der Dienstboten hat
einen freien Tag, die Gelegenheit ist günstig. Bis hier was runterkommt und Croutignac umkehrt, sind wir fertig.»
Assmendi und Batz nickten.
Guy de Serdaine sah langsam um sich, wie ein müßiger Spaziergänger, der sich ein neues Ziel sucht. «Also gut. Assmendi und
Batz bleiben hier. Ich gehe mich so lange da drüben hinsetzen und lese meine Zeitung. Wenn uns etwas auffällt oder falls Croutignac
früher zurückkommen sollte als geplant, schreiten wir ein und warnen dich. Falls du im Haus Schwierigkeiten bekommst, öffne
einfach ein Fenster und schrei oder mach Lärm oder schick Dorette – wir kommen dann und holen dich raus.»
Marie-Provence nickte. Ihr Hals war trocken. «Ja, alles in Ordnung.»
Batz hob seine Angel. «Guten Fang!»
Marie-Provence lächelte
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