Die Ballonfahrerin des Königs
spät!
Als sie aufsah und den Mann erblickte, vergaß sie ihre Vorsätze und lief los.
Kurze Zeit später stand sie auf einem großen, sonnendurchfluteten Platz. Links vor ihr schoss jäh der ehrfurchtgebietende
Bau von Notre-Dame in den Himmel. Sie hatte es fast geschafft. Doch im nächsten Augenblick schreckte sie entsetzt zurück und
starrte ungläubig aufs Pflaster.
Dutzende von abgetrennten Köpfen lagen zu ihren Füßen.
Da ertönte ein Warnruf von oben. Ein steinerner Kopf schoss an Marie-Provence vorbei und schlug neben ihr auf dem Pflaster
auf, wo er in tausend Splitter zerbarst. «
He, pass doch auf, citoyenne! Deiner ist zu hübsch, um abgeschlagen zu werden!» Der Mann, der sich in halsbrecherischer Höhe
an der Kathedrale angeseilt hatte, um die Heiligen an der Fassade zu enthaupten, lachte schallend.
Marie-Provence zitterte am ganzen Leib. In dem Moment erkannte sie ihre Chance: die Gerüste! Sie hastete über Bauschutt und
Steinsplitter und huschte hinter eine der mit Tuch bespannten Wände, die die Bauarbeiter aufgestellt hatten. Vorsichtig lugte
sie dahinter hervor.
Triumph stieg in ihr auf, als sie eine dunkle Gestalt in die entgegengesetzte Richtung laufen sah. Sie verließ ihr Versteck |21| und eilte zu dem Haus gegenüber der Kathedrale. Mehrere Frauen standen davor. Als sich die Tür des Gebäudes öffnete, traten
die Frauen ein.
«Wartet auf mich! Lasst mich rein!»
Mit Erleichterung vernahm Marie-Provence das Geräusch der schweren Eichentür, die hinter ihr ins Schloss fiel.
«Na, du hast es aber eilig!»
Marie-Provence befand sich in einer Art Vorraum, der bis auf ein paar Bänke nackt war. Sie brauchte einige Sekunden, sowohl
um wieder zu Atem zu kommen, wie auch um die Frau vor sich in ihrer ganzen imposanten Größe und Breite zu erfassen.
«Kannst du mir mal sagen, was du hier willst?» Die mächtige Frau sprach mit einem rollenden Akzent, den Marie-Provence noch
nie zuvor gehört hatte. «Du willst uns doch wohl nicht Konkurrenz machen?»
Die anderen Frauen brachen in ein brüllendes Gelächter aus. «Die? Die ist ja selber noch nicht entwöhnt, Théroigne!»
«Ihr seid nur zu acht?» Die Tür im Hintergrund hatte sich geöffnet, und eine ältere Frau mit Haube, Schultertuch und schlichtem
Kleid trat ein.
«Sei gegrüßt, citoyenne Mousnier. Ja, nur zu acht», erwiderte Théroigne angriffslustig. «Bei uns in Auray haben die Leute
selbst kaum was zu essen. Wie sollen wir Kinder aufnehmen, wenn wir unsere eigenen nicht durchkriegen?» Die anderen nickten
bestätigend.
«Ihr kommt aus der Bretagne?» Die Frau runzelte die Stirn. «Ah, Théroigne Longpré! Ich erkenne dich! Hast du nicht vor gerade
drei Monaten einen Buben mit nach Hause genommen? Wo ist das Kind?»
Théroignes Zorn legte sich genauso schnell, wie er aufgeflammt war. Sie wiegte bedauernd den Kopf hin und her. «Ist mir eingegangen.
Letzte Woche hab ich ihn begraben lassen. War Pech – hier ist die Bestattungsbestätigung vom Bürgermeister.»
|22| «Und wer bist du?», fragte Madame Mousnier und winkte Marie-Provence herbei. «Du warst noch nie hier im Waisenhaus, stimmt’s?
Wo ist dein Zertifikat?», fragte sie streng. «Du weißt, dass du eine Bescheinigung aus deinem Dorf über einen untadeligen
Lebenswandel brauchst?»
«Ich bin nicht gekommen, um mich als Amme zu bewerben.» Marie-Provence zog die Zeitung aus ihrem Rock. «Sondern aufgrund dieser
Anzeige hier.»
Madame Mousnier presste die Lippen zusammen. «Die Stelle als Gehilfe des Arztes? Das hat man dir falsch vorgelesen. Da drin
steht ausdrücklich, dass ein Mann gesucht wird.»
«Ich möchte es trotzdem versuchen. Wo kann ich docteur Jomart finden?»
«Du bist zu spät. Er hat sich schon für einen Kandidaten entschieden und zeigt ihm gerade das Haus.»
Marie-Provence schluckte. «Wie schade», sagte sie leichthin. «Da kann man wohl nichts machen. Nun ja, ich fand die Anzeige
ohnehin etwas seltsam. Hast du darauf bestanden, citoyenne, dass ein Mann die Stelle haben soll?»
«Nein, das war der docteur. Er ist da eigen.»
Marie-Provence schwenkte das Blatt hin und her. «Mal unter uns: Hast du da keine Bedenken? Dass ein Arzt sich zwischen den
Ammen, den Pflegerinnen und den Schwangeren aufhält ist ja selbstverständlich, aber ein gänzlich Außenstehender …»
«Also, mir wär’s nicht recht», kam ihr unerwartet Théroigne zu Hilfe.
«Ich hab mir natürlich auch schon meine Gedanken
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