Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
ausgelegt werden können. Verschwiegenheit erschien ihr vorläufig der beste Kurs. »Und ich wollte die Unterlagen zurückbringen, die ich gestern bekommen habe.«
»Sie sind vorbildlich gewissenhaft«, erklärte die Frau ihr mit starrem Lächeln. »Das ist wundervoll! Ich bringe Ihnen gleich einen Tee.«
Die Angestellten der Stiftung kamen nacheinander aus ihren Büros, begrüßten Andrea und erboten sich, ihr behilflich zu sein, falls sie irgendwelche Fragen habe. Sie waren überaus fürsorglich.
Vielleicht etwas zu fürsorglich? Etwas zu sehr bestrebt, ihr bei ihren Recherchen zu helfen, als wollten sie Andrea dabei überwachen? In den ersten Stunden sichtete sie mühsam ungeheure Datenmengen, um Zahlen über das Gesundheitswesen in weniger entwickelten Ländern zu erhalten. Die Informationsquellen, die hier zur Verfügung standen, waren eindrucksvoll. Und sie wurden eindrucksvoll präsentiert. Im Recherchenraum waren die Bücher und Ordner in eleganten Bibliotheksschränken aus Walnussholz aufgereiht, die fest auf dem dunklen Hartholzparkett standen. Später betrat sie die »Leseecke« der Bibliothek und sah dort einen Blondschopf mit rosigen Wangen sitzen. Brandon. Vor sich hatte er mehrere Bücher aufgestapelt: eine naturwissenschaftliche Scharteke, etwas, das wie eine russische Abhandlung über Zahlentheorie aussah, und ein Exemplar von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Bestimmt kein typischer Dreizehnjähriger! Sein Blick leuchtete auf, als er sie sah. Er wirkte übermüdet und hatte dunkle Schatten unter den Augen.
»He, du«, sagte er grinsend.
»He, du«, antwortete sie. »Etwas leichte Lektüre?«
»Yeah, genau. Weißt du irgendwas über den Leberegel? Echt cool. Er ist ein winziges wurmartiges Ding, und sein Lebenszyklus ist ziemlich eindrucksvoll.«
»Lass mich raten. Er fährt bis zur Pensionierung werktags als Pendler in ein New Yorker Büro, dann zieht er nach Miami, um dort seinen Lebensabend zu verbringen.«
»Falsche Spezies, Lady. Nö, er bringt Schnecken dazu, ihn auszuscheiden, damit Ameisen, die Schneckenkacke lieben, ihn fressen, und wenn er in ihrem Körper ist, dringt er ins Gehirn der Ameise ein und nimmt im Prinzip eine Lobotomie vor. Anschließend programmiert er die Ameise dafür, sich auf die Spitze eines Grashalms zu setzen, und lähmt dann ihre Fresswerkzeuge, damit die Ameise den ganzen Tag dort oben bleibt, sodass sichergestellt ist, dass sie von einem Schaf gefressen wird.«
»Hmmm.« Andrea verzog das Gesicht. »Er programmiert die Ameise dafür, sich von einem Schaf fressen zu lassen. Interessant. Nun, jeder vergnügt sich auf seine Weise.«
»Tatsächlich ist das eine Überlebensstrategie. Der Leberegel vermehrt sich im Darm des Schafs, weißt du. Mit jeder Ladung Schafmist gelangen Millionen dieser Tierchen auf die Welt. Alle bereit, über Schnecken als Zwischenwirte in Ameisen zu gelangen und sie zur Selbstzerstörung zu programmieren. Leberegel beherrschen die Welt!«
»Und ich hab schon Mühe gehabt, die Sache mit den Vögeln und Bienen zu kapieren«, sagte Andrea kopfschüttelnd.
Etwas später stellte sie eine Box mit CD-ROMs mit von der Weltgesundheitsorganisation veröffentlichten Krankheits- und Sterblichkeitsziffern in ein Regal zurück, als ihr auffiel, dass eine weißhaarige Angestellte sie forschend betrachtete.
Andrea nickte ihr freundlich zu. Die Frau schien Anfang sechzig zu sein; ihr weißes Haar umrahmte ein rosiges, etwas aufgedunsenes Gesicht. Andrea hatte sie vorher noch nicht gesehen. Auf dem Schreibtisch vor ihr lagen bedruckte Etiketten, die sie auf CD-Boxen klebte.
»Entschuldigen Sie, Ma’am«, sagte die Angestellte zaghaft, »aber Sie erinnern mich an jemanden.« Sie zögerte. »Laura Bancroft.«
»Meine Mutter«, sagte Andrea mit einem Kribbeln im Nacken. »Sie haben sie gekannt?«
»Oh, gewiss. Sie war ein guter Mensch. Wie eine frische Brise, so ist sie mir immer vorgekommen. Ich hab sie sehr gern gehabt.« Die Frau schien aus Maryland oder Virginia zu stammen – sie sprach mit einem Anklang von Südstaatenakzent. »Sie war ein Mensch, der andere Leute wahrnimmt , verstehen Sie? Sie hat Leute wie uns wahrgenommen. Für manche – zum Beispiel für ihren Exmann – sind Sekretärinnen und Bibliothekarinnen wie Möbelstücke. Ich meine, sie würden einem fehlen,
wenn sie nicht da wären, aber man beachtet sie nicht wirklich. Ihre Mutter war da anders.«
Andrea dachte daran, was der Mann in dem grauen Anzug bei seinem
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