Die Bancroft Strategie: Roman (German Edition)
Revanche verlangen«, sagte er kichernd.
»Nächstes Mal«, versprach Andrea ihm. »Ich muss jetzt im Archiv nachgraben, fürchte ich. Langweilige Kellerarbeit.«
Brandon nickte. »Das gute Zeug steht hinter Gittern. Wie schmutzige Magazine weggesperrt.«
»Und was weißt du von solchem Zeug?«, fragte sie scheinbar tadelnd.
Der Junge grinste wieder nur fröhlich. Er war nichts weniger als ein Genie, aber eben auch nur ein Junge.
Metallgitter: eine Standardeinrichtung in nicht überwachten, selten benützten Archiven. Sie musste in diesen Bereich hinein, und diesmal würde sie jemanden um Hilfe bitten. Aber keinen der leitenden Angestellten, sondern einen jüngeren, untergeordneten Mitarbeiter. Sie schlenderte durch eines der kleineren Büros außerhalb des Bibliotheksflügels, an Wasserspender und Kaffeemaschine vorbei, und sprach einen Mann Anfang zwanzig an, der gerade einen Stapel Post sortierte. Der Angestellte – mondbleich, schütteres kurzes Haar und nikotingelbe Finger – kannte
ihren Namen, hatte gehört, dass sie neu im Stiftungsrat war, und schien entzückt zu sein, dass sie sich die Zeit nahm, seine Bekanntschaft zu machen.
»Also«, sagte Andrea, nachdem sie ein paar Sätze miteinander gewechselt hatten, »ich frage mich, ob Sie mir helfen können. Aber sagen Sie’s ruhig, wenn ich lästig bin, okay?«
»Oh, Sie sind durchaus nicht lästig«, sagte der Mann, der Robby hieß.
»Ich sollte verschiedene Schriftstücke einsehen, die ich für meine Arbeit im Stiftungsrat kennen muss, und hab’s geschafft, mich aus dem Kellerarchiv auszusperren«, sagte sie mit einer Gerissenheit, die sie selbst überraschte. »Das ist so peinlich!«
»Durchaus nicht«, antwortete der Mann freundlich, weil ihm etwas Abwechslung vom Postöffnen sicher willkommen war. »Durchaus nicht! Ich … ich wette, ich kann Ihnen behilflich sein.« Er sah sich in dem leeren Büro um. »Bestimmt hat einer meiner Kollegen einen Schlüssel fürs Archiv.« Er kramte in ihren Schreibtischschubladen, bis er einen gefunden hatte.
»Danke, Sie sind ein Schatz«, sagte Andrea. »Ich bringe ihn gleich wieder zurück.«
»Ich begleite Sie hin«, schlug Robby vor. »Das ist einfacher.« Bestimmt wollte er im Freien eine schnelle Zigarette rauchen, wenn er schon mal nicht am Arbeitsplatz war.
»Ich falle Ihnen wirklich nicht gern zur Last«, gurrte Andrea.
Sie war froh, dass er ihr den Weg zeigte. Statt der exponierten Haupttreppe stiegen sie eine schmalere Hintertreppe hinab, die über mehrere Treppenabsätze steil in den Keller hinunterführte. Das Kellergeschoss hatte nicht viel von einem Keller an sich: Es war elegant eingerichtet und roch nach Möbelpolitur mit Limonenöl, altem Papier und sogar schwach nach gutem Pfeifentabak. Die Wände waren mit Holz getäfelt, der Fußboden verschwand unter sündteurer Wiltshire-Auslegeware. Das Archiv war in zwei Sektionen unterteilt, von denen eine hinter einem
massiven Gitter lag, genau wie Brandon ihr erzählt hatte. Der junge Angestellte ließ Andrea ein und verschwand dann wieder die Treppe hinauf, ohne ganz verbergen zu können, wie sehr er sich nach einem Glimmstängel sehnte.
Andrea blieb allein im Archiv der Bancroft-Stiftung zurück. Vor ihr waren schwarz laminierte Archivboxen mit codierten alphanummerischen Etiketten in langen Reihen aufgestapelt. Es gab Hunderte von solchen Kartons, und sie wusste nicht, wo sie anfangen sollte. Sie zog die nächstbeste Box zu sich heran, nahm den Deckel ab und wühlte darin. Fotokopien von fünfzehn Jahre alten Rechnungen über Gärtnerarbeiten und kleinere Instandsetzungen an Gebäuden. Sie stellte den Karton zurück und trat an ein anderes Regal. Dieses Verfahren erinnerte sie an die Entnahme von Bodenproben. Schließlich stieß sie auf Rechnungen aus dem Monat, in dem ihre Mutter tödlich verunglückt war. Sie ließ sich Zeit, prüfte alle Einzelheiten und hoffte, etwas werde als ungewöhnlich hervorstechen. Aber das war nicht der Fall.
Der fünfte Karton, dessen Inhalt sie sich ansah, enthielt wie die Box daneben detaillierte Telefonrechnungen aus der Zentrale der Bancroft-Stiftung in Katonah. Andrea suchte weiter, bis sie einen Karton mit Rechnungen aus dem Todesmonat ihrer Mutter fand. Auf den ersten Blick war auch darin nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Schließlich öffnete sie eine Box, die Telefonrechnungen aus dem letzten halben Jahr enthielt. Ohne an etwas Bestimmtes zu denken, faltete sie die Gesprächsliste des letzten
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