Die Bank
schätzen weiß, was du tust, Bruderherz, ist das hier doch wie die Existenz von Gästehandtüchern. Das Ganze ist ein Symptom für ein grundlegenderes Problem.«
Er wiederholt die letzten Worte für sich. »Symptom für ein grundlegenderes Problem.« In der Küche bleibt er stehen, holt Block und Stift heraus und schreibt das auf. »Für manche ist das Leben ein einziges Vorsprechen« , fügt er hinzu. Er nickt, während er rasch eine Melodie summt. Wenn er in diesen Zustand gerät, dauert es einige Minuten, also lasse ich ihn in Ruhe. Plötzlich hält er inne und kritzelt dann hastig drauflos. Der Stift kratzt wie verrückt über das Papier. Als er das Blatt umschlägt, erhasche ich einen kurzen Blick auf einen winzigen, perfekten Sketch eines Mannes, der sich vor einem Vorhang verbeugt. Er ist fertig mit Schreiben, nun zeichnet er.
Es war das erste, was ihm völlig natürlich zugeflogen ist, und wenn Charlie will, kann er ein unglaublicher Künstler sein. So unglaublich sogar, daß die New York School of Visual Arts ihm ein komplettes College-Stipendium gewährt hat. Nach zwei Jahren haben sie versucht, ihn auf kommerzielle Arbeiten zu lenken. Werbung und Illustration. »Davon kann man gut leben«, haben sie ihm gesagt. Aber in dem Moment, als Charlie Karriere und Kunst zusammenlaufen sah, ist er ausgestiegen und hat die beiden letzten Jahre am Brooklyn College Musik studiert. Ich habe ihn zwei volle Tage lang angeschrien. Er hat erwidert, daß es im Leben um mehr geht als darum, ein neues Logo für ein Waschmittel zu entwerfen.
Ich höre, wie er den Rest, der Wohnung besichtigt und in der Luft herumschnüffelt. »Hier riecht’s nach Oliver«, verkündet er. »Raumspray und Turnschuhmief.«
»Raus aus meinem Bad!« rufe ich von meinem Bett aus. Ich habe meinen Aktenkoffer aufgeklappt und gehe meine Post durch.
»Hörst du denn niemals auf?« fragt mich Charlie. »Es ist Wochenende – entspann dich endlich.«
»Ich muß das hier noch fertigmachen«, gebe ich zurück.
»Hör zu, dieser Scherz mit der Vanille tut mir leid …«
»Ich muß das hier fertigmachen!« wiederhole ich.
Diesen Tonfall kennt er. Er schweigt und macht es sich am Fußende des Bettes gemütlich.
Zwei Minuten später funktioniert sein Trick mit der fehlenden Geräuschkulisse. »Manchmal hasse ich die Reichen!« stöhne ich.
»Nein, tust du nicht«, spottet er. »Du liebst sie. Du hast sie immer geliebt.«
»Ich meine es ernst«, sage ich. »Es ist so, kaum kriegen sie ein bißchen Kohle in die Finger, verlieren sie schon den Kontakt zur Wirklichkeit. Sieh dir nur den Kerl hier an …« Ich ziehe das oberste Blatt vom Stapel. »Dieser Idiot hat fünf Jahre lang drei Millionen Dollar verlegt. Fünf Jahre hat er sie vollkommen vergessen! Aber kaum sagen wir ihm, daß wir sie ihm wegnehmen werden, schon schreit er los und will sie wiederhaben!«
Er liest den Brief, der von jemandem namens Marty Duckworth unterzeichnet worden ist. »Danke für Ihr Anschreiben … Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, daß ich ein neues Konto bei folgender New Yorker Bank eröffnet habe … Bitte überweisen Sie den Restbetrag der Summe dorthin.« Für Charlie sieht das aus wie eine ganz normale Überweisungsanforderung. »Ich verstehe nicht.«
Ich fuchtele mit dem schmalen Papierstapel hin und her. »Es ist ein abgetretenes Konto.« Ich weiß, daß er mir nicht folgen kann, also fahre ich fort: »Nach New Yorker Rechtsprechung fällt das Geld auf einem Konto an den Staat, wenn ein Inhaber es fünf Jahre lang nicht nutzt.«
»Das ergibt doch keinen Sinn. Wer würde sein eigenes Geld versauern lassen?«
»Meistens Leute, die gestorben sind«, sage ich. »So was passiert in jeder Bank landesweit. Wenn jemand stirbt oder krank wird und vergessen hat, seiner Familie von seinem Konto zu erzählen. Das Geld liegt oft jahrelang dort, und wenn es keine Aktivitäten auf dem Konto gibt, wird es irgendwann als passiv gekennzeichnet.«
»Also überweisen wir das Geld nach fünf Jahren einfach dem Staat?«
»Nach viereinhalb Jahren sind wir verpflichtet, einen Warnbrief loszuschicken. Darin steht: ›Ihr Guthaben wird dem Staat überwiesen.‹ Spätestens dann wird jeder, der noch am Leben ist, reagieren. Das ist auch für uns besser, denn so bleibt das Geld in der Bank.«
»Und das gehört zu deinem Bereich? Du hast nur mit toten Leuten zu tun? Mann, und ich dachte schon, meine Fähigkeiten, was Kundenbetreuung angeht, wären mies.«
»Lach nicht … Einige dieser
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