Die Bank
merkwürdig. Ich meine, Oliver soll angeblich das Gehirn hinter einem Dreihundertdreizehn-Millionen-Dollar-Raub sein, aber nach dem, was du mir gerade vorgelesen hast, schreibt er monatlich Schecks aus, um die Krankenhausrechnung seiner Mutter zu zahlen, und übernimmt auch noch die Hälfte ihrer Hypothek.«
»Noreen, nur weil dich jemand anlächelt, bedeutet das noch lange nicht, daß er dir nicht bei der nächsten Gelegenheit ein Messer in den Rücken jagen kann. Ich habe so was schon fünfzigmal erlebt. Hier hast du dein Motiv. Unser süßer Oliver hat vier Jahre in der Bank verbracht und geglaubt, daß er ein großes Tier wird, und dann wacht er eines Tages auf und stellt fest, daß alles, was er davon hat, ein Haufen Rechnungen ist und eine Sonnenbräune von den Neonröhren. Um die Sache noch schlimmer zu machen, kommt auch sein Bruder mit ins Boot und stellt fest, daß er in derselben Falle sitzt. Die beiden haben einen besonders schlechten Tag … es bietet sich eine Gelegenheit … und voilà … das Geschirr läuft mit dem Löffel davon.«
»Ja … nein … Vielleicht«, sagte Noreen. Sie wollte lieber wieder ihrem Gedankengang folgen. »Was ist mit der Freundin? Siehst du irgendwas mit einer Telefonnummer?«
»Vergiß die Einzelheiten. Wie wäre es mit der vollständigen Adresse?« Joey durchsuchte den Recyclingeimer und blätterte einige Magazine durch. Business Week, Forbes, Smart Money … »Hier haben wir es«, sagte sie, zog ein People -Magazin heraus und las die Subskriptionsadresse. »Beth Manning, 201 Ost 87th Street, Apartment 23H. Wenn die Freundin vorbeikommt, bringt sie immer was zu lesen mit.«
»Großartig, du bist ein Genie«, sagte Noreen sarkastisch. »Würdest du jetzt bitte verschwinden, bevor der Secret Service antanzt und dir den Hintern versohlt?«
»Wo wir gerade davon reden …« Joey warf das Magazin wieder zurück in den Eimer, lief ins Bad und riß die Tür zum Medizinschrank auf. Zahnpasta … Rasierapparat … Rasiercreme … Deodorant … Nichts Besonderes. Im Mülleimer lag ein zerknüllter weißer Plastikbeutel mit den schwarz aufgedruckten Worten Barneys Apotheke . »Noreen, der Laden heißt Barneys Apotheke. Wir wollen eine Liste mit ungewöhnlichen Rezepten für Oliver und seine Freundin.«
»Gut. Können wir jetzt verschwinden?«
Als Joey in das Wohnzimmer zurückging, fiel ihr ein schwarzer Rahmen aus Laminat auf, der auf dem Küchentisch stand. Auf dem Foto saßen zwei Jungen auf einem riesigen Sofa. Sie trugen dieselben engen roten Rollkragenpullover, und ihre Füße ragten über das Sitzkissen hinaus. Oliver mußte etwa sechs Jahre alt sein, und Charlie sah aus wie zwei. Beide lasen Bücher, aber als Joey sich näher heranbeugte, sah sie, daß Charlie sein Buch auf dem Kopf hielt.
»Joey, das ist langsam nicht mehr komisch«, rief Noreen in ihrem Kopfhörer. »Wenn sie dich dabei erwischen, daß du eingebrochen bist …«
Joey mußte unwillkürlich nicken. Sie ging zum Fernsehgerät zurück, griff dahinter, ertastete das Stromkabel und verfolgte es bis zur Steckdose. Wenn das Haus so alt war, wie es den Anschein hatte …
»Was machst du da?« Noreen bettelte beinah.
»Ich spiele Elektriker«, meinte Joey spöttisch. Am Ende des Kabels sah sie den orangefarbenen Adapter mit den drei Anschlüssen, der auf der anderen Seite in den Stecker mit den zwei Löchern paßte. Ich liebe alte Häuser, dachte sie, als sie sich hinkniete. Sie zog ihre Tasche heran und holte erneut das schmale Etui heraus. Darin befand sich ein fast identischer orangefarbener Adapter.
Im Gegensatz zu dem batteriebetriebenen Transmitter, den sie in dem Kugelschreiber in Lapidus’ Büro versteckt hatte, war dieser hier speziell auf lange Benutzung ausgelegt. Er sah aus wie ein Stecker und funktionierte auch so, aber darüber hinaus übertrug er ein Signal satte vier Meilen weit, selbst in bebauten Vierteln. Niemand achtete darauf, niemand kam bei seinem Anblick auf komische Ideen, und das beste war, solange er sich in der Steckdose befand, hatte er unbegrenzten Energievorrat.
»Bist du bald fertig?« flehte Noreen.
»Fertig?« Joey zog den Stecker aus der Wand. »Ich habe gerade angefangen.«
»Kriegen Sie das hin oder nicht?« fragte Gallo. Er stand vor dem Schreibtisch von Andrew Nguyen.
»Immer mit der Ruhe«, erwiderte Nguyen. Er war schlank, muskulös und bereits früh an den Schläfen ergraut. Der Asiat arbeitete seit fünf Jahren im Büro der Bundesanwaltschaft. In dieser
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