Die Begnadigung
Stennett.
»Die Stadt liegt in Norditalien, stimmt’s?«
»Im Nordosten.«
»Wie weit ist es bis zu den Alpen?«
Stennett wies mit einer Kopfbewegung nach rechts.
»Etwa sechzig Kilometer in der Richtung. An klaren Tagen kann man sie sehen.«
»Können wir irgendwo einen Kaffee trinken?«, fragte Joel.
»Nein, wir sind, äh, nicht befugt, unterwegs anzuhalten.«
Der Fahrer schien völlig taub zu sein.
Sie umkreisten den nördlichen Stadtrand von Pordenone und hatten bald die zweispurige A 28 erreicht, wo es außer den Lastwagenfahrern alle sehr eilig zu haben schienen. Wahrscheinlich waren die Raser auf dem Weg zur Arbeit und spät dran. Kleine Autos schossen an ihnen vorbei, während ihr Chauffeur es bei einhundert Stundenkilometern beließ. Stennett entfaltete ein Exemplar von La Repubblica und verdeckte damit die halbe Windschutzscheibe.
Joel war zufrieden, dass er seine Ruhe hatte und die vorbeiziehende Landschaft betrachten konnte. Obwohl es Ende Januar war und die Felder nicht bestellt waren, hatte er den Eindruck, dass die leicht wellige Ebene sehr fruchtbar sein musste. Gelegentlich war auf einem terrassenförmigen Hügel eine alte Villa zu sehen.
Früher hatte er selbst einmal eine angemietet. Vor etwa einem Dutzend Jahren hatte seine zweite Frau mit der Trennung gedroht, falls er nicht mit ihr in Urlaub fahre. Damals hatte Joel achtzig Stunden und mehr pro Woche gearbeitet. Er zog es vor, im Büro zu leben; angesichts dessen, was zu Hause ablief, war es dort deutlich friedlicher. Trotzdem, eine Scheidung wäre zu teuer gekommen, und so erzählte Joel allen, er wolle mit seiner geliebten Frau einen Monat in der Toskana verbringen. Dabei tat er so, als wäre das Ganze seine Idee gewesen – »einen Monat lang Wein und kulinarische Abenteuer im Herzen des Chianti!«
Sie mieteten in der Nähe des mittelalterlichen Städtchens San Gimignano ein ehemaliges Kloster aus dem vierzehnten Jahrhundert, komplett mit Haushälterinnen, Köchen und Chauffeur. Doch am vierten Tag des Abenteuers ging die beunruhigende Nachricht ein, der Zuweisungsausschuss des Senats gedenke, einen bereits zugesagten Betrag für Verteidigungsausgaben einzubehalten, wodurch einer von Joels Mandanten aus der Rüstungsindustrie zwei Milliarden Dollar verloren hätte. Er flog in einem gecharterten Jet nach Hause und machte sich daran, die Dinge mit dem Senat zu regeln. Seine zweite Frau blieb in Italien, wo sie, wie er später erfahren sollte, ein Verhältnis mit dem jungen Chauffeur begann. Während der nächsten Woche rief er jeden Tag an und versprach, für den Rest des Urlaubs zurückzukehren, aber nach der zweiten Woche ließ sie sich am Telefon verleugnen.
Joel sorgte dafür, dass der Senat seine Pläne rückgängig machte.
Einen Monat später reichte seine Frau die Scheidung ein. Eine harte Auseinandersetzung begann, die ihn letztlich über drei Millionen Dollar kostete.
Und sie war ihm noch die liebste seiner drei Ehefrauen gewesen. Die erste, die Mutter von zweien seiner Kinder, war seit der Scheidung von ihm zwei weitere Ehen eingegangen. Ihr gegenwärtiger Mann hatte mit dem Verkauf flüssiger Düngemittel in der Dritten Welt ein Vermögen gemacht. Sie hatte Joel ins Gefängnis geschrieben. Es war ein grausamer, kurzer Brief gewesen, in dem sie das amerikanische Justizsystem pries, weil es endlich einen der größten Gauner zur Strecke gebracht habe.
Er konnte es ihr nicht verübeln. Sie hatte ihre Koffer gepackt, nachdem sie ihn mit einer Sekretärin erwischt hatte, dem blonden Sexpüppchen, das seine zweite Frau werden sollte.
Ehefrau Nummer drei hatte ihn unmittelbar nach der Anklage verlassen.
Was für ein erbärmliches Leben. Was war übrig geblieben von zweiundfünfzig Jahren und einer Karriere, in denen er Mandanten geprellt, Sekretärinnen nachgestellt und schleimigen Politikern die Daumenschrauben angesetzt hatte? Von einer Zeit, in der er sieben Tage pro Woche gearbeitet, seine psychisch überraschend stabilen Kinder ignoriert und rastlos an seinem Ego und Image gebastelt hatte, um Geld, Geld und noch mehr Geld zu verdienen? Was war die Belohnung, wenn man rastlos dem großen amerikanischen Traum hinterher jagte?
Sechs Jahre Gefängnis. Ein falscher Name, weil der alte zu gefährlich geworden war. Und ungefähr einhundert Dollar in bar.
Marco? Konnte man sich wirklich daran gewöhnen, jeden Morgen in den Spiegel zu schauen und » Buongiorno, Marco « zu sagen?
Trotzdem, es war besser, mit der
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