Die Begnadigung
lebte er von Mais-Chips und Limonade. Die Schwestern waren nur unwesentlich freundlicher als die Gefängniswärter, und die Ärzte hatten – zweifellos auf Anordnung von oben – nichts anderes im Sinn, als ihm dubiose Medikamente verabreichen zu wollen. Irgendwo in der Nähe musste sich eine kleine Folterkammer befinden, wo sie über ihn herfallen wollten, wenn die Wunderwirkung ihrer Substanzen eingesetzt hatte.
Er sehnte sich nach frischer Luft und Sonnenschein, nach üppigen Mahlzeiten und menschlichem Kontakt mit Leuten, die keine Uniform trugen. Und nach zwei sehr langen Tagen ging sein Wunsch in Erfüllung.
Am dritten Tag seines Aufenthalts kam ein junger Mann mit ausdrucksloser Miene in sein Zimmer. »Okay, Backman, dann will ich Ihnen mal erklären, wie’s jetzt weitergeht«, sagte er freundlich. »Ich heiße Stennett.«
Er warf einen Aktenhefter neben ein paar zerlesene Illustrierte auf die Decke, die Backman über seine Beine gebreitet hatte. Der öffnete den Hefter. »Marco Lazzeri?«
»Das sind Sie, mein Freund. Sie sind jetzt ein echter Italiener. Das da sind Ihre Geburtsurkunde und der Personalausweis. Prägen Sie sich alle Informationen so schnell wie möglich ein.«
»Und wie? Ich spreche kein Italienisch.«
»Dann lernen Sie’s. In drei Stunden werden Sie in eine nahe gelegene Stadt gebracht, wo Ihr neuer bester Freund Sie für ein paar Tage an die Hand nehmen wird.«
»Für ein paar Tage?«
»Vielleicht auch für einen Monat. Hängt davon ab, wie gut Sie sich eingewöhnen.«
Backman ließ den Aktenhefter sinken und starrte Stennett an. »Für wen arbeiten Sie?«
»Wenn ich Ihnen das erzählen würde, müsste ich Sie anschließend töten.«
»Sehr komisch. Für die CIA?«
»Für die USA. Mehr kann ich nicht sagen, und mehr müssen Sie auch nicht wissen.«
Joel blickte auf das Fenster mit dem Stahlrahmen, das durch ein Schloss gesichert war. »Ich habe keinen Pass gesehen«, sagte er.
»Weil Sie keinen brauchen. Sie werden ein sehr ruhiges Leben führen, Marco. Ihre Nachbarn werden glauben, Sie wären gebürtiger Mailänder, aber in Kanada aufgewachsen. So werden sie sich Ihr schlechtes Italienisch erklären. Falls Sie das Bedürfnis verspüren sollten, auf Reisen zu gehen, könnte das sehr gefährlich werden.«
»Gefährlich?«
»Kommen Sie, Marco. Versuchen Sie nicht, mich zum Narren zu halten. Auf dieser Welt laufen ein paar finstere Gestalten herum, die Sie liebend gern finden würden. Wenn Sie unseren Anweisungen folgen, wird es nicht so weit kommen.«
»Ich kenne kein einziges italienisches Wort.«
»Natürlich tun Sie das – Pizza, Spaghetti, Caffè latte, Bravo, opera, mamma mia. Darauf lässt sich aufbauen. Je schneller und besser Sie die Sprache lernen, desto sicherer sind Sie. Sie werden einen Sprachlehrer bekommen.«
»Ich habe keinen Cent.«
»Ja, ich hab’s gehört. Zumindest hat man keinen bei Ihnen gefunden.« Er zog ein paar Geldscheine aus der Tasche und legte sie auf die Akte. »Während Sie eingelocht waren, hat Italien die Lira gegen den Euro eingetauscht. Das ist ein Hunderter in kleinen Scheinen. Ein Euro ist ungefähr einen Dollar wert. In einer Stunde komme ich mit ein paar Klamotten zurück. In der Akte finden Sie eine Liste mit Ihren ersten zweihundert italienischen Wörtern. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich an die Arbeit machen.«
Sechzig Minuten später kam Stennett mit einem Hemd, einer Hose, einem Jackett, Schuhen und Socken zurück, alles aus italienischer Produktion. » Buongiorno « , sagte er.
»Hallo.«
»Was ist das italienische Wort für ›Auto‹?«
» Macchina. «
»Prima, Marco. Es wird Zeit, in die macchina zu steigen.«
Hinter dem Steuer des kleinen, unauffälligen Fiat saß ein schweigender Chauffeur. Joel zwängte sich auf die Rückbank, mit der Stofftasche, die seine gesamte Habe enthielt. Stennett nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Die Luft war kalt und feucht, und es war Schnee gefallen, wenn auch nur sehr wenig. Als das Tor der Aviano Air Base hinter ihnen lag, hatte Joel Backman zum ersten Mal das Gefühl, wieder in Freiheit zu sein, doch die Freude war durch schlimme Befürchtungen getrübt.
Aufmerksam las er die Verkehrsschilder. Von den Vordersitzen kam kein Wort. Sie fuhren auf der einspurigen S 251, vermutlich in Richtung Süden. Als sie sich Pordenone näherten, wurde der Verkehr dichter.
Joel brach das schwer lastende Schweigen. »Wie viele Einwohner hat Pordenone?«
»Fünfzigtausend«, antwortete
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