Die Begnadigung
an das Gefängnis denken? Weil es unmöglich ist, sechs Jahre einfach hinter sich zu lassen. Irgendetwas von der Vergangenheit trägt man immer mit sich herum, so unangenehm sie auch gewesen sein mag. Gerade die entsetzliche Zeit hinter Gittern ließ ihm die unverhoffte Freiheit so beglückend erscheinen. Er würde Zeit brauchen, versprach sich aber, sich ganz auf die Gegenwart zu konzentrieren und nicht an die Zukunft zu denken.
Lausch einfach den Geräuschen um dich herum, sagte er sich, dem Geplauder und Lachen der Gäste, den geflüsterten Worten des Mannes mit dem Mobiltelefon, den Bestellungen, die die Kellnerin an die Küche durchgibt. Konzentrier dich auf den Duft des Zigarettentabaks, des starken Kaffees, des frischen Gebäcks. Genieß die Wärme dieses uralten Cafés, in dem sich die Einwohner von Treviso schon seit Jahrhunderten treffen.
Warum genau bist du hier?, fragte er sich zum hundertsten Mal. Warum haben sie dich sofort nach der Entlassung außer Landes geschafft? Warum diese perfekt organisierte Reise nach Italien? Warum hatte man ihm nicht einfach die Entlassungspapiere ausgehändigt und ihn – nach der Verabschiedung von seinen Mithäftlingen – sein Leben leben lassen, wie man es bei allen anderen begnadigten Kriminellen tat?
Er hatte eine Ahnung, vielmehr eine ziemlich präzise Vermutung.
Sie ängstigte ihn.
Da tauchte wie aus dem Nichts Luigi auf.
6
A uch Luigi bestellte einen Espresso. Er war Anfang dreißig, hatte traurige dunkle Augen und etwas länger geschnittenes dunkles Haar, das ihm halb über die Ohren reichte. Rasiert hatte er sich seit mindestens vier Tagen nicht. Er trug eine schwere Jacke, die ihn – in Verbindung mit dem Stoppelbart – auf sympathische Weise wie einen Landbewohner wirken ließ. Er lachte viel. Joel fielen sein ebenmäßiges Gebiss und die gepflegten Hände und Fingernägel auf. Die Bauernjacke und die Bartstoppeln waren Teil seiner Rolle. Wahrscheinlich hatte er in Harvard studiert.
Der Akzent seines perfekten Englisch war gerade so stark ausgeprägt, um noch jeden davon zu überzeugen, dass er in Wirklichkeit Italiener war. Er behauptete, in Mailand geboren und Sohn eines Diplomaten zu sein, der mit seiner amerikanischen Frau und zwei Kindern im Dienste seines Landes um die Welt gereist sei. Da Joel vermutete, dass Luigi bestens über ihn Bescheid wusste, versuchte er seinerseits, mehr über seinen neuen Aufpasser herauszufinden.
Viel kam nicht dabei heraus. Unverheiratet. Studium in Bologna. Universität in den Vereinigten Staaten – tief im Mittleren Westen. Berufliche Tätigkeit? Für die Regierung. Welche Regierung? Ließ sich nicht sagen. Sein sympathisches Lächeln sollte unliebsame Fragen abblocken.
Joel war klar, dass er es mit einem echten Profi zu tun hatte. »Vermutlich wissen Sie das eine oder andere über mich«, sagte er.
Wieder dieses Lächeln, die perfekten Zähne. Wenn Luigi lächelte, waren die traurigen Augen fast geschlossen. Die Frauen mussten verrückt nach ihm sein. »Ich habe die Akte gelesen.«
»Meine Akte? Dafür wäre dieser Raum nicht groß genug.«
»Ich habe sie gelesen.«
»Also gut. Wie lange hat Jacy Hubbard im Senat der Vereinigten Staaten gesessen?«
»Zu lange, wenn Sie mich fragen. Hören Sie, Marco, wir werden jetzt nicht die Vergangenheit wieder auferstehen lassen. Dafür haben wir im Augenblick viel zu viel zu erledigen.«
»Kann ich mir nicht einen anderen Namen aussuchen? Marco versetzt mich nicht gerade in Begeisterung.«
»Ich habe ihn nicht gewählt.«
»Wer dann?«
»Keine Ahnung. Auf jeden Fall nicht ich. Sie stellen eine Menge sinnlose Fragen.«
»Eine alte Angewohnheit. Ich war fünfundzwanzig Jahre Rechtsanwalt.«
Luigi leerte seine Espressotasse, legte einige Münzen auf den Tisch und stand auf. »Lassen Sie uns einen Spaziergang machen«, sagte er. Joel griff nach seiner Stofftasche und folgte ihm zum Ausgang. Draußen gingen sie eine Seitenstraße hinab, wo nur wenige Autos fuhren. Schon nach ein paar Schritten blieb Luigi vor einem Haus mit der Bezeichnung Albergo Campeol stehen. »Das ist Ihre erste Unterkunft«, sagte er.
Joel studierte das dreistöckige Gebäude mit den Stuckverzierungen und den farbenfrohen Fähnchen über dem Säulenvorbau.
»Ein nettes, kleines Hotel – albergo heißt ›Hotel‹. Wenn Sie wollen, können Sie auch hotel sagen, aber in den kleineren Städten bevorzugt man albergo. «
»Klingt, als wäre Italienisch eine einfache Sprache.«
Da dies offenbar
Weitere Kostenlose Bücher