Die Begnadigung
wird ein Mann zu Ihnen kommen, und Sie werden tun, was er sagt.«
»Und wenn nicht?«
»Keine Extratouren, Mr Backman. Wir lassen Sie nicht aus den Augen.«
»Wer ist der Mann?«
»Ihr neuer bester Freund. Halten Sie sich an ihn, dann werden Sie wahrscheinlich weiterleben. Wenn Sie Dummheiten machen, werden Sie den nächsten Monat nicht überstehen.« Stennett sprach mit einer gewissen Selbstgefälligkeit, als könnte es ihm durchaus gefallen, selbst derjenige zu sein, der den armen Marco erledigte.
»Dann heißt es für uns also adiós ?«
»Nicht adiós, Marco, sondern arrivederci. Haben Sie den Papierkram?«
»Ja.«
»Also dann, arrivederci .«
Joel stieg langsam aus dem Wagen und ging los. Er musste dagegen ankämpfen, sich durch einen Blick über die Schulter zu vergewissern, dass Stennett noch da war und ihn vor dem Unbekannten schützte. Aber er schaute sich nicht um. Stattdessen versuchte er, so unauffällig wie möglich die Straße hinabzuschlendern, mit seiner Stofftasche über der Schulter, der einzigen Stofftasche, die es in der Innenstadt von Treviso zu geben schien.
Natürlich war Stennett noch da, aber wer beobachtete ihn außerdem? Bestimmt sein neuer bester Freund, der sich vielleicht irgendwo hinter einer Zeitung verbarg und Stennett und dem Rest der Bande Zeichen gab. Einen Augenblick lang blieb Joel vor der Tabaccheria stehen, um die Schlagzeilen der Zeitungen zu studieren, doch er verstand kein einziges Wort. Eigentlich war er nur stehen geblieben, weil er jetzt überall stehen bleiben konnte, weil er ein freier Mann war, der tun und lassen konnte, was er wollte.
Im Caffè Donati begrüßte ihn ein junger Mann, der gerade die Theke abwischte, mit einem sanften »Buongiorno«.
»Buongiorno«, brachte Joel mühsam hervor – sein erstes an einen echten Italiener gerichtetes italienisches Wort. Um jedem weiteren Gesprächsversuch auszuweichen, ging er schnell an der Bar und einer Wendeltreppe vorbei, wo ein Schild auf einen im ersten Stock liegenden Raum hinwies. Dann passierte er ein Büfett mit köstlich aussehendem Gebäck. Das Hinterzimmer war dunkel und eng und mit Zigarettenrauch geschwängert. Er nahm an einem der beiden freien Tische Platz und ignorierte die anderen Gäste, schon jetzt in Angst vor der Kellnerin, vor der Bestellung, vor einer frühzeitigen Enttarnung. Mit gesenktem Kopf saß er da und studierte seine neuen Ausweispapiere.
»Buongiorno«, sagte eine junge Kellnerin, die links neben ihm aufgetaucht war.
»Buongiorno«, brachte Joel zum zweiten Mal mühsam hervor. »Espresso«, sagte er dann sofort, um sich nicht über die Gerichte auf der Speisekarte informieren lassen zu müssen. Die Kellnerin lächelte und sagte etwas Unverständliches, worauf er schnell mit einem »No« reagierte.
Es funktionierte – die Kellnerin verschwand, und Joel hatte einen großen Sieg errungen. Niemand starrte ihn wie einen dummen Touristen an. Als der Espresso kam, bedankte er sich sehr leise mit einem »Grazie«, und die Kellnerin belohnte ihn mit einem Lächeln. Er trank langsam, weil er nicht in die Verlegenheit kommen wollte, bald eine zweite Tasse bestellen zu müssen.
Um ihn herum wurde ohne Unterlass in einem irrwitzigen Tempo geredet. Wirkten englischsprachige Unterhaltungen auf Italiener genauso? Wahrscheinlich. Es erschien ihm völlig unmöglich, die Sprache so gut zu erlernen, dass er Gespräche wie diese verstehen konnte. Er schaute auf die dürftige Liste mit den zweihundert Wörtern und versuchte ein paar Minuten lang verzweifelt, auch nur eines davon aufzuschnappen.
Die Kellnerin kam vorbei und stellte offenbar eine Frage. Joel antwortete mit dem üblichen »No«, und auch diesmal klappte es.
Er trank also einen Espresso im Caffè Donati an der Via Verde nahe der Piazza dei Signori in der Innenstadt des in Venetien gelegenen Treviso, während seine alten Mithäftlinge noch immer in der Rudley Federal Correctional Facility in Schutzhaft saßen – bei lausigem Essen und wässrigem Kaffee, von sadistischen Wärtern und lachhaften Vorschriften schikaniert. Sie würden noch jahrelang von der Freiheit träumen müssen.
Im Gegensatz zu früheren Befürchtungen würde Joel Backman nicht körperlich und geistig dahinsiechen und hinter Gittern seinen letzten Atemzug tun. Er hatte es seinen Folterknechten nicht gegönnt, ihn noch vierzehn Jahre zu quälen, und jetzt saß er unbehelligt in einem pittoresken Café, nur eine Autostunde von Venedig entfernt.
Warum musste er
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