Die Begnadigung
Infusionsbehältern, schwarze Tafeln an den Wänden, auf denen mit Kreide Namen geschrieben standen. Einige Zeilen waren durchgestrichen. Ob die tot sind, durchfuhr es Wottke.
Mein Gott … laß Erna wieder durch diese Tür herauskommen. Gesund … oder auch nur lebend. Lebend nur … mehr will ich ja gar nicht … Nur lebend.
Die Milchglastür schwang wieder zu. Lautlos.
Franz Wottke hatte die Hände gefaltet und starrte auf die schwarzen Buchstaben ›Operationsraum‹.
Es war ihm, als sei die ganze Welt leer. Völlig leer. Eine Welt ohne Erna – das gab es nicht.
Als er sich von der Scheibe wegdrehte, war sein Hemd naß von Schweiß. Übelkeit überfiel ihn. Er riß das Fenster zum Garten hin auf und sog gierig Luft ein.
Luft!
Und nach jedem Atemholen biß er die Zähne zusammen, weil er nicht »Erna!« schreien wollte.
Über den Flur kam Oberarzt Dr. Färber. Er sah Wottke am Fenster stehen, zögerte, wollte in den Wintergarten, überlegte es sich dann aber und ging weiter, durch die Tür zu den OPs.
»Alles klar?« fragte er auf dem Flur vor dem OP III.
»Ja, Herr Oberarzt.«
»Na denn …«
Während er die Tür öffnete, machte ein Krankenpfleger mit Kreide einen Strich durch den Namen Erna Wottke.
Im Wintergarten der Klinik, am offenen Fenster, allein und grenzenlos einsam, hockte Franz Wottke. Jedesmal, wenn die Milchglastür zum Operationstrakt aufschwang, ging Wottke an das Fenster zum Gang. Er sah bleiche Gesichter, dicht eingehüllte, durch weiße Decken vor Zugluft geschützte Körper … Gerettete oder Verlorene?
Sie ist nicht wieder aufgewacht, dachte Wottke voll Entsetzen. Sie haben sie woanders herausgefahren, vielleicht in den Keller, wo sie stehen – eine stumme Reihe zugedeckter Bahren …
Er umklammerte die Lehne des Korbsessels. Wieder die Tür – aufschwingend, den Blick kurz freigebend auf den weißen, gekachelten Flur mit den Gestalten in den weißen Mänteln und Hauben. Ein Bett auf Gummirollen … eine zugedeckte Gestalt. Blonde Haare … ja … blonde Haare.
Wottke preßte das Gesicht gegen die Scheibe. Langsam rollte das Bett an ihm vorbei. Ein schmales Gesicht, gelbblaß, mit offenem Mund. Noch in tiefer Narkose, jenseits aller Schmerzen. Ein Gesicht, so spitz, so schmal …
»Erna …«, stammelte Wottke.
Die Höhle des Aufzuges verschluckte das Bett. Die automatische Tür schloß sich fast lautlos.
Franz Wottke ließ die Sessellehne los. Das geflochtene Rohr war unter seinen Händen zersplittert. Er sah es und merkte es nicht … er ging zum Fenster, steckte den Kopf hinaus und starrte in den Himmel. Er merkte auch nicht, daß hinter ihm die Tür des Wintergartens klappte und Dr. Färber hereinkam. Erst, als sich eine Hand auf seine Schulter legte, fuhr er herum.
»Herr … Herr Doktor …« Seine Augen waren weit, als platzten sie auseinander. »Haben Sie meine Frau … Herr Doktor …«
»Wir haben das Menschenmögliche getan, Herr Wottke.« Dr. Färbers Stimme war dunkel, beruhigend wie immer. »In einer halben Stunde können Sie Ihre Frau sehen …«
»Und … was ist …«
Dr. Färber nahm seine Brille ab und putzte sie. »Wir haben die linke Brust abnehmen müssen … Es ging nicht anders.«
»Die … die ganze …«, stotterte Wottke. Plötzlich sah er Erna vor sich, in dem Perlonmantel.
Dr. Färber setzte die Brille wieder auf. »Es gibt Schlimmeres, Herr Wottke. Wir haben mit dieser Operation viel gewonnen …«
»Ja … ja …« Franz Wottke ergriff plötzlich die Hand des Oberarztes und drückte sie. »Ich bin Ihnen so dankbar, Herr Doktor. So dankbar. Ihnen und Doktor Hansen. Wenn Erna nur gesund wird. Das mit der Brust …« Er bemühte sich zu lächeln. Er wollte sich in die Burschikosität retten, weil ihm das Heulen in der Kehle saß. »Deswegen bleibt sie ja doch eine Frau …«
Dr. Färber lächelte zurück. Es gelang ihm besser als Wottke.
»Richtig«, sagte er und verließ schnell den Wintergarten.
Am Nachmittag, nach seinen Hausbesuchen, fuhr Dr. Jens Hansen in die Stadt.
Oberarzt Dr. Hubert Färber wohnte in der Nähe der Klinik in einer modernen Einfamilienvilla. Ein schöner, gepflegter Blumengarten lag um den flachen, weißen Bungalow.
Vom Garten aus führte ein schmiedeeisernes Tor zu einem Pfad, der bereits zum Klinikgelände gehörte. War etwas Besonderes auf den Stationen, Oberarzt Dr. med. habil. Färber war immer erreichbar. Das hatte für die Klinik etwas Beruhigendes, für Hubert Färber durchaus nicht. Seine einzige
Weitere Kostenlose Bücher