Die Begnadigung
Ruhe waren die Wochen des Urlaubs. Er verbrachte ihn immer weit weg, damit er nie erreichbar war. In Ägypten, in Marokko, auf Madeira oder Mallorca. Er nannte es ›Flucht ins Privatleben‹.
Hansen hatte sich nicht angemeldet. Das Hausmädchen wußte deshalb nicht, ob der Herr Oberarzt überhaupt zu sprechen war und holte Frau Färber.
»Wenn Sie in einer Stunde noch einmal wiederkommen könnten«, sagte sie höflich. »Mein Mann … Er hat sich etwas hingelegt.«
»Ich komme ganz privat, gnädige Frau. Ich habe mit Ihrem Gatten schon mehrfach telefoniert. Zufällig bin ich in der Stadt …«
»Wenn er nicht gerade schläft …« Herta Färber zögerte. Dann lächelte sie. »Kommen Sie mit, Herr Doktor Hansen. Wer mit einem Arzt verheiratet ist, bekommt von ihm nur selten etwas zu sehen. Geht es Ihrer Frau auch so?«
»Wen fragen Sie das, gnädige Frau?«
Oberarzt Dr. Färber lag im Liegestuhl auf der Terrasse, umgeben von Blumenkübeln, durch einen Sonnenschirm geschützt, und las. Einen Kriminalroman, wie Hansen mit einem Blick auf den bunten Umschlag feststellte. Färber hörte nicht die Schritte, die auf ihn zukamen.
»… und er bohrte den Dolch in seine Seite und drehte ihn dreimal um …«, sagte Hansen. Herta lachte. Oberarzt Färber legte den Roman auf den Schoß und blinzelte nach oben.
»Sie, lieber Hansen …« Er schob einen mit buntem Drell bezogenen Hocker heran. »Kommen Sie, setzen Sie sich. Ich bin ehrlich zu faul und zu müde, um aufzustehen. Ich habe fünf Stunden am Operationstisch gestanden. Das genügt für heute.«
Hansen setzte sich. Herta Färber schob den Schirm etwas näher heran, so daß auch Hansen im Schatten saß.
»Kalten Tee mit Kognak oder einen Whisky-Soda mit Eis?«
»Da Frauen immer das letzte Wort haben, war auch dein letzter Gedanke der beste.«
»So müde er ist – frech bleibt er immer.« Lächelnd ging Frau Färber ins Haus.
Dr. Färber legte das Buch auf die weißen Steinplatten der Terrasse. »Wie kommt's, daß ein so mit Krankenscheinen zugeworfener Praktiker wie Sie einmal eine Stunde Zeit für einen Nichtkrankenbesuch hat? Haben Sie, großer Idealist, etwa alle gesund gemacht?«
»Wie hoch ist die Zahl der hoffnungslosen Krebsfälle in Ihrer Klinik?« fragte Dr. Hansen, ohne auf Färber einzugehen.
Färber verzog das Gesicht, als denke er an saure Milch.
»Muß das sein?«
»Die hoffnungslosen Fälle? Nein.«
»Gottogott … jetzt fängt der wieder mit seinen Theorien an!« Färber nahm Herta die Gläser und die Flasche ab, suchte aus dem Thermosbehälter Eisstückchen, schwenkte sie durch die Gläser, goß Whisky darüber und füllte mit Sodawasser auf. »Dr. Hansen ist nämlich ein Revolutionär«, erklärte er seiner Frau. »Er ist der Ansicht, wir Chirurgen schnippeln bloß, weil wir nichts anderes gelernt hätten, und zum Umlernen zu träge seien.« Er reichte Dr. Hansen das Glas. »Lieber Hansen, angenommen, Sie sind Käsefabrikant. Seit zehn Jahren verkaufen Sie Ihren ›Hansens Vollfett‹. Sie haben ungeheuren Erfolg, Sie bauen sich Villen, Sie beschäftigen tausend Angestellte, die alle von ›Hansens Vollfett‹ leben. Sie sind marktbeherrschend. Keine Ernährung ohne Ihren Käse! Und auf einmal kommt ein Männlein in Ihren Hochhausbetrieb, stellt sich hin und sagt: ›Lieber Hansen – Ihr Käse ist Mist! Was in einem Käse drin sein soll, ist 'raus durch Ihr verrücktes Herstellungsverfahren. Was Sie bringen und den Leuten seit zehn Jahren einreden, ist ernährungsphysiologisch nichts als wertloser Schmier!‹ – Was werden Sie mit einem solchen Meckerer tun? Rausschmeißen! Und wenn er draußen weiter schreit, verklagen Sie ihn. Sie stellen ihn einfach ab! Sehen Sie …«, er trank einen kräftigen Schluck Whisky, »genauso verhalten Sie sich der modernen Medizin gegenüber. Sie wollen eine Weltmacht mit einem einzigen Gedanken einrennen, der zudem noch unbeweisbar ist: Die Theorie von der Ganzheitserkrankung des Krebsbefallenen.«
»Deshalb komme ich zu Ihnen.« Dr. Hansen setzte sein Glas unter den Schemel. »Ich will ein Haus kaufen und zunächst mit vier Betten anfangen …«
»Was?« fragte Dr. Färber ahnungsvoll.
»Eine interne Krebstherapie.«
»Sie sind verrückt, Hansen. Bitte, nehmen Sie's mir nicht übel.«
»Der Fall der Frau Wottke hat mir den letzten Anstoß dazu gegeben.«
»Zugegeben … ein trauriger Fall. Lebenslustig, sechs Kinder, ein tapferer Mann, könnte noch zwanzig Jahre leben, wenn sie ein Jahr früher
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