Die Begnadigung
angeschrieben.
»Mamma-Ca. 44 Jahre. 11 Uhr. Dr. Färber.«
Erna Wottke war eingereiht in das Heer der Krebskranken. In die Millionen, die es wissen oder nicht.
Es gab kein Zurück mehr.
Dr. Hansen rief in der Klinik an.
»Ja«, sagte Dr. Färber ins Telefon. »In einer Stunde, Herr Kollege. Wir werden sehr radikal operieren müssen. Leider dürften wir schon etwas zu spät gekommen sein. Zweifellos sind bereits Metastasen vorhanden. Auf jeden Fall wollen wir Nachbestrahlungen machen. Tut mir leid für die Frau. Ein paar Monate früher …«
Hansen legte auf. Warum Bestrahlungen, dachte er. Wenn die Metastasen an der Thoraxwand sitzen, in der Wirbelsäule vielleicht schon … warum dann noch mit Röntgenstrahlen den Körper weiter schwächen, die Zellen veröden, Gesundes wie Krankes verbrennen … und irgendwo im Körper, noch unsichtbar, lauernd, wartend, sitzen trotz allem die Todeszellen und zerfressen den Körper dort, wo kein Messer und kein Strahl hinkommen kann.
Ist es nicht ein Gebot der inneren Medizin, hier zu helfen? Zu versuchen zu helfen?! Auch wenn die Kunst der Chirurgen hier zu Ende ist. In ihren Augen ist der Mensch bereits tot … Das Todesurteil ›unheilbar‹ ist gesprochen worden. Wer wagt zu widersprechen. Die interne Medizin? Welche Anmaßung!
Dr. Jens Hansen kannte die Argumente der Schulmedizin zu gut. Er war selbst jahrelang Chirurg gewesen, hatte am OP-Tisch gestanden und gesehen, wie schwer oft der Kampf mit dem Messer gegen einen Feind war, den man erst erkannte, wenn er unangreifbare Stellen des Körpers erobert hatte.
Oft hatte Hansen dann seinen Chef, Geheimrat Professor Rechtsheim, beim Waschen nach der Operation angesprochen und gefragt: »Herr Geheimrat, was hat diese Operation genützt?«
Und der alte Geheimrat hatte den jungen Arzt über den Goldrand seiner Brille angesehen und geantwortet: »Drei Monate länger leben … ist das nichts?«
»Zu wenig, Herr Geheimrat.«
»Dann machen Sie mehr! Falls Sie's können!«
Als Chirurg konnte er es nicht. Während seiner nachfolgenden internen Ausbildung war Dr. Hansen aber auf ein Problem gestoßen, das ihn faszinierte und nicht mehr losließ. Es war eine Idee, die so alt ist wie die Menschheit: Der Körper hilft sich selbst, wenn man ihm die Möglichkeit schafft, sich selbst zu helfen.
Über Jahre hinweg hatte Dr. Hansen die Theorie einer biologischen Krebstherapie studiert. Er hatte nicht darüber gesprochen. Mit keinem Kollegen, bei keiner Aussprache innerhalb der Ärzteschaft, bei keinen Erfahrungsdiskussionen. Er wußte, was man antwortete … er kannte das Lächeln, das auf die Gesichter der Kollegen trat: Schon wieder so einer, der mit Kräutchen Vergißmeinnicht den Krebs vertreiben will. Was wir mit Stahl und Strahl nicht schaffen, wollen sie erreichen mit Allerweltsmitteln wie einer genauen Diät, mit Milchsäurepräparaten, mit einer Regeneration des Körpers.
So hatte Jens Hansen wie viele seiner Kollegen die Stille vorgezogen. Das anonyme Forschen. Das kritische Beobachten, das Sammeln von Material, Statistiken, Erfahrungsberichten. Das Studium der vielfältigen internen Krebstherapien – die bis zum heutigen Tag mit Ausnahme der Chemotherapie auf den Widerstand weitester Schulmediziner-Kreise stoßen – die Kenntnis der fast hundert Krebstheorien, das Himmelhochjauchzen und Zutodebetrübtsein neuer Methoden. Und eins hatte er in diesen stillen Jahren zu erkennen gelernt:
Krebs kann nicht nur eine Lokalerkrankung sein. Er muß eine Allgemeinerkrankung des Menschen, eine schleichende, chronische Krankheit sein, deren sichtbarer Austritt der Tumor ist.
Dr. Hansen war bereit, das zu beweisen. In seinem Schrank lagen dicke Aktenhefter voller Material.
Aber eine Scheu hielt ihn zurück, fast eine Angst vor den Konsequenzen, die er heraufbeschwor.
Allein fast sah er sich einer Armee Andersgesinnter gegenüber. Einer bestens ausgerüsteten Armee, geführt von großen, berühmten Namen, bewaffnet mit blitzenden, Ehrfurcht einflößenden Geräten. Einer Armee vor allem, die nie und nimmer bereit war, dem Wahlspruch untreu zu werden: »Die Schulmedizin hat immer recht, denn sie ist Wissenschaft!«
Alle anderen gelten nur als Außenseiter, Querulanten und Volksverdummer. Man führt sie zurück in den Schoß der Wissenschaft, oder man verdammt sie.
Nur eins macht man nicht oder nur widerwillig, und deshalb unobjektiv: das Prüfen der neuen Therapie auf ihren Wert.
Wäre es denn nicht wirklich eine Katastrophe,
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