Die Begnadigung
Ihre wohlverdiente Ruhe gestört habe. Ich kam nicht meinetwegen. Ich gehe sofort.« Er wandte sich an Dr. Färber, der intensiv eine welkende Blume in einem der Kübel betrachtete und sie schließlich abpflückte. »Vielleicht kommen Sie einmal an eines meiner vier Betten, Herr Kollege. Ich bitte Sie darum. Ein ›Außenseiter‹, auch ein verlachter, ist glücklich, wenn man ihn beachtet.«
Er verbeugte sich und ging schnell über die Terrasse und durch den Vorgarten auf die Straße.
Die verwelkte Blume fiel auf die Steinplatten.
»Wirst du ihn mal besuchen, Hubert?« fragte Herta Färber. Die Erinnerung an ihre Mutter hatte sie plötzlich blaß gemacht. Ihr dunkles Haar ließ ihr Gesicht noch durchsichtiger erscheinen. Tatsächlich hatte sie damals gedacht: Mußte es sein? Sie hatte es jetzt nicht zugegeben, um Hubert nicht in den Rücken zu fallen.
Er schüttelte den Kopf: »Ihn besuchen? Für wen hältst du mich?«
»Vielleicht hat er ein ganz klein wenig recht, Hubert …«
Färber ließ sich wieder in den Liegestuhl fallen, nahm den Kriminalroman vom Boden und schlug die Seite auf, bei der ihn Dr. Hansen unterbrochen hatte.
»Er soll sich um seine Rheumakranken kümmern und um Großmütterchens Schnupfen. Eines sollte man ihm aber versalzen: Patienten wie Frau Wottke kriegt er nicht in seine vier Betten …!«
Jens Hansen kaufte das Nachbarhaus.
Die Handwerker zogen ein. Man riß Wände ab, brach große Fenster aus, legte Bäder und Waschräume, Laboreinrichtungen und eine kleine Röntgenstation an.
Jede freie Minute stand Dr. Hansen unter den Handwerkern und kontrollierte die Arbeit. Der Bausparvertrag reichte gerade für die Renovierung … für die gesamte Einrichtung stellte Karin ihr väterliches Vermögen zur Verfügung. Ohne zu fragen, ohne Furcht sogar, daß das Geld verloren sein könnte. Ihr Vertrauen zu Jens war so groß, daß der Gedanke gar nicht aufkam. Im Gegenteil, sie freute sich mit ihm über jeden täglichen Fortschritt. Sie fuhr in die Stadt und suchte die Möblierung der vier Krankenzimmer aus. Sie kaufte die Gardinen, sie suchte die Farben der Bodenbeläge aus, Kunststoffplatten, die immer hygienisch sauber gehalten werden konnten.
Werkmeister Wottke hatte den Schock des Operationserlebnisses längst überwunden. Er sah: Erna ging es gut. Sie nahm zu, das Essen war vorzüglich, die Schwestern rührend, die Ärzte aufmerksam, vor allem dieser verdammt nette Oberarzt Dr. Färber. Man tat alles, um Erna so schnell wie möglich nach Hause schicken zu können. In der nächsten Woche wurde sie sogar bestrahlt. Die modernsten Mittel wendete man an. Franz Wottke war glücklich wie ein beschenktes Kind.
»Sie geben sich wirklich alle Mühe«, sagte er zu Dr. Färber.
»Es ist unsere Pflicht, Herr Wottke. Und überhaupt ist Ihre Gattin meine besonders liebe Patientin.« Dr. Färber winkte durch die Glasscheibe zu Frau Wottke hin. Sie winkte etwas verschämt zurück. Wie alle weiblichen Patienten hatte sie sich in Dr. Färber verliebt. Die Schwestern lächelten still. Sie kannten das.
Dr. Färber ging weiter in sein Zimmer. In der Tasche hatte er einen Befund des Strahleninstitutes. Jeden Tag wurde Erna Wottke hinübergefahren und nach der Bestrahlung wieder abgeholt. Heute war dieses Schreiben mitgekommen.
Man stellte ab morgen die Behandlung mit Röntgenstrahlen ein. Es war sinnlos. Eine Röntgenaufnahme hatte im Becken und an der Wirbelsäule kleine, verstreute Schatten gezeigt. Metastasen, Tochtergeschwülste. Unheilbar.
Dr. Färber nahm einen Locher, lochte das Blatt und heftete das Todesurteil Erna Wottkes in einer Mappe ab.
Frau Wottke wurde demnach am nächsten Dienstag entlassen. Die Diagnose blieb bei den Akten. Rechnung an die AOK. Überbetrag: Rechnung – doppelt – an Herrn Wottke. Zahlbar innerhalb von 14 Tagen.
Die Akte wanderte zur Verwaltung, von dort ins Archiv.
Für die Klinik war Erna Wottke uninteressant geworden.
Für den Oberarzt Dr. Färber aber begann der persönliche Fall Wottke.
Er hatte nach dem Abendessen in aller Ruhe noch einmal darüber nachgedacht, was Dr. Hansen ihm erzählt hatte. Und je mehr er darüber nachdachte, um so mehr kam er zu der Auffassung: Das ist ungeheuerlich! Das ist untragbar. Es gibt im ärztlichen Ethos eine Ehre, die es verbietet, einen Kollegen bloßzustellen. Was Hansen da aber plante, war eine Bloßstellung der Schulmedizin mit Mitteln, die früher von Kräuterweibern an der Türe angeboten wurden.
»Wir leben doch
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