Die Begnadigung
zu sehen, prallte an der Bestimmung der Klinik ab: Kein Besuch, ohne vorher von Hansen empfangen zu sein, ohne vorherige Aussprache mit dem Chef oder seinem Stellvertreter.
»Und wann hat der ›Chef‹ endlich Zeit?« rief Dr. Barthels aufgebracht, als Dr. Summring ihm dies vortrug. »Ich kann für dieses Pflegegeld verlangen, daß man …«
»Die anderen zahlen genau soviel, Herr Oberstaatsanwalt«, sagte Dr. Summring verschlossen. »Sie können sich mit dem gleichen Recht beschweren, wenn man Sie vorzöge …«
Als die Chefsekretärin – es war Karin Hansen, aber Barthels wußte es nicht – ihn endlich aufrief und ins große Chefzimmer bat, hatte sein Ärger den kritischen Punkt schon fast erreicht. Hansen saß hinter seinem Schreibtisch und hatte die Röntgenbilder und die Krankenblätter von Frau Barthels vor sich liegen. Er erhob sich beim Eintritt des Oberstaatsanwaltes und kam ihm entgegen.
Dr. Barthels war verblüfft. Er war ehrlich genug, es sich einzugestehen: Dieser Mann sieht nicht so aus, wie er aussehen müßte, wenn alles stimmt, was man über ihn sagt. So sieht kein Geschäftemacher aus, der den Patienten das Geld vierstellig aus den Taschen zieht. Kein Scharlatan, der durch Handauflegen oder geheimnisvolle Pulver Millionen scheffelt … ihm entgegen kam ein Mann, groß, schlank, asketisch, mit ergrautem Haar und den Schatten durchwachter Nächte unter den Augen. Als er ihm die Hand gab, war es selbst dem innerlich sich wehrenden Barthels, als spüre er etwas von der Zuversicht, die dieser Mann ausstrahlte und an den sich die fünfundsiebzig Sterbenden klammerten, als könne er Wunder vollbringen.
»Ihrer Schwägerin geht es gut«, sagte Dr. Hansen, bevor Oberstaatsanwalt Dr. Barthels fragen konnte.
»Gut?« Barthels hob die Augenbrauen. »Ich sprach vorgestern noch meinen Bruder. Er fand den Zustand seiner Frau durchaus nicht gut …«
»Was uns Ärzten als gut erscheint, ist für den medizinischen Laien nicht gleich sichtbar.« Hansen überlegte jedes Wort, das er sprach. Er wußte, daß es genau abgewogen wurde. »Auch wenn nach außen hin für den nicht geschulten Betrachter eine Verschlechterung sichtbar ist, kann das für den Mediziner heißen: Der Patient spricht auf die Therapie an.«
»Das finde ich merkwürdig!« sagte Oberstaatsanwalt Dr. Barthels steif.
»Es gehört zu dem Phänomen der Krankheit. Wenn ein Medikament wirksam ist, wehrt sich die Krankheit. Dieser Kampf wird im Körper ausgetragen und er reagiert natürlich darauf.«
»Das klingt wie ein medizinischer ›Karl May‹!« Dr. Barthels beobachtete Dr. Hansen. Der Klinikchef nahm diese Brüskierung hin, als habe er sie gar nicht verstanden.
»Ich habe Ihnen das sagen müssen, bevor Sie Ihre Schwägerin besuchen. Sie liegt auf Zimmer siebenunddreißig. Stationsarzt ist Dr. Reitmayer. Zu irgendwelchen Fragen stehe ich Ihnen jederzeit zur Verfügung.«
»Danke.« Oberstaatsanwalt Dr. Barthels schob die Unterlippe vor. »Wenn Sie erlauben, gleich die erste Frage: Sie werden meine Schwägerin heilen?«
»Nein!«
Barthels Kopf zuckte hoch. »Nicht? Aber warum ist sie dann bei Ihnen?«
»Weil Ihr Bruder Vertrauen hat.«
»Vertrauen in was?«
»In meine Kombinationstherapie …«
»Aber sie sagten doch eben selbst: Meine Schwägerin ist nicht zu heilen!«
»Ist eine Lebensverlängerung um fünf oder zehn Monate nicht auch ein Erfolg?«
»Zehn Monate länger diese Qual?! Das nennen Sie einen Erfolg? Zehn Monate, die wahrscheinlich viele Tausende kosten? Nur, um zu atmen, zu sehen, zu leiden … Das ist doch unlogisch und grausam zugleich!«
»Sie schätzen Ihr Leben nicht so teuer ein, Herr Oberstaatsanwalt?«
»Ich habe keinen Krebs!« sagte Dr. Barthels.
»Wissen Sie das so genau?«
Dr. Barthels war es plötzlich, als berühre eine eiskalte Hand sein Herz. Er wurde blaß und merkwürdig unsicher in den Beinen. In seine Augen trat eine flimmernde Unruhe.
»Sie wollen doch nicht behaupten, Herr Doktor …«
»Die meisten Krebskranken kommen zu spät. Wenn man es merkt, Herr Dr. Barthels, ist es schon zu spät! Sie haben sich nie prophylaktisch untersuchen lassen?«
»Nein.«
»Sie sollten es tun …«
Wie betäubt verließ Oberstaatsanwalt Dr. Barthels das Chefzimmer. Mit steifen Knien ging er zum Lift und ließ sich in die zweite Etage fahren. Zu Zimmer 37.
Die Chirurgie weiß heute, daß wir lediglich grobanatomisch den Geschwulstbezirk aus dem Körper entfernen, ohne dadurch die Krankheit an sich
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