Die Begnadigung
Sie mir?«
»Nein!« Hansen lächelte. Die Frage war zu deutlich gewesen. »Der Zustand Ihrer Gattin ist der schlimmste, den ich zur Zeit im Hause habe. Sie wissen es selbst. Es gibt keinen Arzt, der Ihnen jemals etwas versprechen könnte. Täte er es, wäre er ein Betrüger!«
»Bravo!« rief Direktor Barthels ehrlich.
»Sagen wir lieber: Jeder Atemzug ist eine Chance. Je länger wir atmen, um so länger hoffen wir.«
»Klar. Das ist nichts Neues!«
»Nein, aber man nimmt es mit der Hoffnung nicht ernst. Hier, bei uns, nimmt sie jeder ernst, die Patienten, die Ärzte, die Schwestern. Verstehen Sie, wir erlauben uns einfach nicht, zu resignieren. Hoffnung ist bei uns Pflichtfach. Nichts, gar nichts ist für uns endgültig und vorbei, solange ein Mensch noch atmet!«
Direktor Barthels sah zu Boden. Er schämte sich auf einmal. Er schämte sich, einen Augenblick an Dr. Hansen gezweifelt zu haben. Er schämte sich, daß er seine Frau aus unlauteren Motiven eingewiesen hatte. Er schämte sich sogar für seinen Bruder, den Oberstaatsanwalt, der jetzt in seinem Büro saß und auf den Anruf wartete, was Hansen gesagt hatte.
Spontan streckte Barthels Dr. Hansen beide Hände hin.
»Doktor«, sagte er mit stockender Stimme, »ich glaube Ihnen! Ich setze all meine Hoffnung in Sie. Behandeln Sie meine Frau, kämpfen Sie, auch wenn Sie auf verlorenem Posten stehen. Ich muß Ihnen eins sagen: Wo Sie auch sind, Sie finden mich an Ihrer Seite!«
An einem trüben Regentag fuhr Dr. Hansen endlich einen Weg, den er seit über einem Jahr nicht mehr gefahren war.
Langsam glitt er über die alten, vertrauten Landstraßen, vorbei an den breit hingelagerten Gehöften, den Feldern, den Wacholdergruppen und Birkenwäldchen, den kleinen, verträumten Seen und den Heideflächen mit den der Sonne nachziehenden Schnuckenherden.
Ab und zu hielt er den Wagen an und sah über das flache, herrliche Land, über die schweigende Welt der Heide und die moosbewachsenen Strohdächer der Katen.
Vor zwei Jahren war dies die Welt des Landarztes Dr. Hansen gewesen. Die Bauern, krumm gearbeitet für das tägliche Brot, aber treu wie die struppigen Hofhunde. Die vereinzelten Landhäuser der Reichen, Stätten der Geselligkeit und des Snobismus. Das Forsthaus, in dem er vier Kindern zum Leben verhalf … die Hühnerfarm, auf der er drei Kinder vor dem Typhus rettete … der Kollege Tierarzt, der seine Pneumonie mit einem Hustenmittel für Pferde heilen wollte und sich fast vergiftet hätte … Ein Sack voller Schicksale, den er zurückgelassen hatte, um einen Berg von Toten aufzutürmen.
Abseits von seinem ehemaligen Arzthaus, der jetzigen Pension Karin Hansen, parkte er den Wagen in einem Birkenwäldchen und ging zu Fuß weiter.
Es war der Weg, den seine Mutter, Berta Hansen, gegangen war und von dem sie nicht wieder zurückkehrte. Der Weg, den er vor vierzehn Jahren mit Karin gegangen war, jung und verliebt. Unter wieviel Wacholderbüschen waren sie stehengeblieben und hatten sich geküßt. Und da war die einsame Birke, da hatte sie gesagt: Ich habe jetzt schon Angst vor dem Alter … Ich möchte dich nie, nie verlieren, Jens …
Nie verlieren …
Langsam ging Hansen weiter. Das Dach seines Hauses tauchte zwischen den Bäumen auf. Der Vorgarten, der Zaun, den er selbst gezimmert hatte, die Platten des Eingangsweges aus rotem Sandstein … alles, alles war noch so wie früher … Und doch war es anders.
Er hatte es verloren. Aufgegeben für seine Idee.
Zögernd blieb er stehen. Das Küchenfenster war offen, die Gardine zurückgezogen. Er sah auf die Uhr. Zwölf Uhr mittags. Wenn Karin jetzt kochte, mußte sie den einsamen Mann sehen, der aus dem Wald heraustrat, wie ein Verirrter, der eine Herberge sucht …
Mit schnellen Schritten ging er auf das Haus zu. Er läutete, und als er von drinnen Karin zur Tür kommen hörte, schlug ihm das Herz bis zum Hals …
Karin öffnete. Da stand ihr Jens gegenüber. Nach zwei Jahren … nach zwei Jahren Schweigen, Grübeln, Selbstvorwürfen. Sie starrte ihn an, wie gelähmt war sie. Aus der Küche rauschte es … Wasser lief in das Spülbecken. Als es klingelte, war sie gerade dabeigewesen, das Geschirr abzuwaschen.
»Paß auf, daß es nicht überläuft«, sagte Hansen leise. »Das ist dir schon viermal passiert …«
»Komm rein«, konnte Karin endlich sagen. Sie trat zur Seite, Hansen ging an ihr vorbei und schloß die Tür. In der halbdunklen Diele erst gaben sie sich zögernd die Hand.
»Hat es einen
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