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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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über die Bretter der Klinikbühne. Nach über einem halben Jahr Proben, unterbrochen durch öfteren Wechsel der Darsteller, war der Tag der Aufführung auf einen Sonnabend festgelegt. Regisseur Hans Bertrich hatte die letzten Proben von einem Rollstuhl leiten müssen.
    Peter Vindrich, der ›Androklus‹ und Gegenspieler Franz Wottkes im Privatleben und auf der Bühne, hatte sich gut erholt. Er stand auf der Liste Hansens zur Entlassung vorgemerkt. Ein Monat Beobachtung, dann konnte er zu seinen Fabriken zurückkehren.
    Die letzten Orchesterproben, noch eine Kostümprobe, die Generalprobe …
    »Ich werde Sie ansehen, wenn ich spiele, Frau Wottke«, sagte Peter Vindrich nach der Generalprobe. »Wie anders könnte ich sonst die Worte sprechen: ›Was soll ich tun, mein Schatz?‹«
    Lisbeth Wottke wurde rot, und Wottke, der im Hintergrund auf der Bühne das Bild des ersten Aktes mit aufbaute, warf einen Hammer gegen die Wand und wünschte sich, es wäre der Kopf des Fabrikanten Vindrich.
    Am Samstagabend war der große Speisesaal bis zum letzten Winkel gefüllt. Nicht nur die gehfähigen Patienten sollten das Theaterstück sehen, diese Demonstration des Lebens, sondern auch alle liegenden Kranken, soweit sie noch transportfähig waren.
    Auch Frau Elfriede Barthels war dabei. Es ging ihr etwas besser, die großen Schmerzen im Rückgrat und an der Thoraxwand, wo die Hauptmetastasen saßen, hatten fast über Nacht aufgehört. In zwei Wochen hatte sie drei Pfund zugenommen … sie wollte es nicht begreifen und ließ sich immer wieder den Wiegezettel geben. Dann weinte sie vor Freude und schrieb an ihren Mann: »Gibt es wirklich nicht Wunder auf unserer Welt …?«
    Hinter der Bühne verlor Wottke die Nerven. Bisher war er wie ein Fels in der Brandung gestanden … jetzt, zehn Minuten vor seinem Auftritt, schon eingenäht in sein Löwenfell, überfiel ihn die Krankheit aller großen Mimen: das Lampenfieber.
    Viermal mußte seine Frau ihn auftrennen und wieder zunähen, weil Wottke auf die Toilette mußte. Und dann, als Androklus-Vindrich mit seiner Frau Megära, dargestellt von einer Bauunternehmers-Gattin, bereits auf der Bühne stand, entdeckte er, daß er in all der Aufregung sein Gebiß vergessen hatte. Ohne Gebiß konnte er nicht brüllen, er hatte es nie probiert.
    »Mein Gebiß!« zischte Wottke zu Lisbeth hinüber. »Mein Gebiß, Gebiß!«
    Er hob die Tatze und zeigte auf sein Löwenmaul. Frau Wottke nickte. Sie dachte, daß Franz ihr ein Kußhändchen zuwarf und warf ihm eins zurück.
    »Mein Gebiß!« rief Wottke. Nicht laut genug, um das Orchester zu übertönen. Androklus, der durch eine Ritze des Vorhanges sah, trat zurück. Es war soweit. Wottke rollte sich eilends in sein Gebüsch. Ein gebißloser Löwe. Er hätte weinen können vor Ärger und Wut, während die Aufführung ihren Anfang nahm.
    ›Androklus und der Löwe‹, eine Komödie von Bernard Shaw, gespielt von den Kranken der ›See-Klinik‹, die von allen Ärzten draußen aufgegeben worden waren.
    In der ersten Reihe der Betten lag auch Marianne Pechl. Ihr Gesicht war klein geworden; in der Höhlung einer Hand könnte es Platz haben, dachte man, wenn man sie ansah. Neben ihr saß auf einem Hocker Dr. Hansen. Karin Hansen saß zwischen den Patienten. Sie war eben erst gekommen … hinter der Bühne hatte sie die Darsteller geschminkt und frisiert. Auch den Darsteller des Centurio, einen großen Malermeister mit einem Bronchialkarzinom, das sich in fünf Monaten in der ›See-Klinik‹ zurückgebildet hatte. In der letzten Woche hatte dann die Abstoßung begonnen, wie es Hansen nannte, die Abstoßung des zerstörten Gewebes aus dem zerfallenen Karzinom.
    »Sie sehen blaß aus«, hatte Karin zu ihm gesagt. »Soll ich meinen Mann rufen? Noch können Sie die Rolle an Herrn Petermann abgeben, der sie auch studiert hat.«
    »Aber nein, Frau Doktor!« Der Malermeister lachte. »Mir geht's blendend! Nur das Lampenfieber!«
    Nun saß er während des ersten Aktes hinter der Bühne und hustete. Er bezwang sich, es nicht zu zeigen, er drückte beide Hände gegen den Mund, hielt den Atem an und versuchte, den Reiz zu unterdrücken.
    Erst nach dem zweiten Akt, sagte er sich immer wieder. Erst dann kannst du husten, wie du willst. Aber nicht jetzt!
    Wenn es zu mächtig wurde, hustete er in den Ärmel seiner Uniform hinein, die er als Centurio trug. Er spürte, wie sich etwas in seiner Brust loszureißen begann, und er kämpfte gegen die Angst an, die in ihm

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