Die Begnadigung
Befunde!
Vernichtend war das Urteil von Professor Bongratzius, dem Pathologen. Er nannte die Ansicht Dr. Hansens, der Krebs sei eine chronische Allgemeinerkrankung des Körpers, glatt einen ›kompletten Unsinn, der nie zu beweisen ist‹ und bekräftigte in wohlgesetzten Worten die Ansicht der Schulmedizin: Der Krebs ist eine Lokalerkrankung! Er ist eine örtliche Störung des Zellhaushaltes.
Dr. Wüllner wurde in diesem Expertenstreit hin- und hergerissen. Erschrocken sah er, daß der Stein, den er ins Rollen gebracht hatte, zu einer Lawine angewachsen war, die ihn begraben würde … Vielleicht war wirklich alles charakterlos und falsch, was er getan hatte.
Je stärker sich dieses Gefühl bei Dr. Wüllner verdichtete, um so intensiver begann er nach dem Tagebuch Mariannes zu fahnden. Karin Hansen hatte es nach Mariannes Tod an sich genommen. Da es nichts mit den Klinikberichten zu tun hatte, sondern Privatbesitz einer Patientin war, hatte man es nicht beschlagnahmt, wie die Krankenblätter und Röntgenaufnahmen von über tausend Unheilbaren. In diesem Tagebuch aber mußte ein Schlüssel sein, der das ganze Problem der Hansen-Klinik aufschloß und verständlich machte.
»Ein Tagebuch?« fragte Oberstaatsanwalt Dr. Barthels, als Wüllner ihn danach fragte. »Mir ist nichts davon bekannt. Fräulein Pechl hat ein Tagebuch geführt? Das ist aber interessant! Wenn man es als Beweismittel zulassen kann …«
»Es wird alles enthalten, was wir bisher noch nicht wissen.« Dr. Wüllner überflog die Zeilen des letzten Briefes, den Marianne an ihn geschrieben hatte. Den Abschiedsbrief, mit dem sie sich von ihm losgesagt hatte. Hier schrieb sie: »Ich habe ein neues Tagebuch begonnen. Das alte ist mit Dir geschlossen worden. Mit dem grausamen Wort ›Enttäuschung‹. Dieses neue Tagebuch wird nur einen kurzen Lebensabschnitt beschreiben, und in diesem hast Du keinen Platz mehr …«
Dr. Barthels sah an die Decke. Das Zittern in Wüllners Stimme ergriff ihn. Er sah, wie der junge Arzt unter seinem Schicksal litt. Er stand zwischen den Fronten und wurde von ihnen zerquetscht.
»Ich werde mich darum kümmern«, sagte Dr. Barthels langsam. »Wenn wir dieses Tagebuch nicht als Privateintragung, sondern als schriftliche Aussage betrachten …«
Am nächsten Vormittag erschienen in der ›See-Klinik‹ wieder zwei Beamte und beschlagnahmten bei Karin das Tagebuch der Ärztin Dr. Marianne Pechl. Vor den Augen Karins wurde es in einem großen Kuvert versiegelt. Sie mußte unterschreiben, daß es unversehrt abgeliefert worden war.
Am Abend saß Oberstaatsanwalt Dr. Barthels zu Hause an seinem Schreibtisch, rauchte eine Zigarre, brach das Kuvert auf und begann zu lesen.
Es las bis tief in die Nacht hinein. Er merkte nicht, daß er seit Stunden an einer kalten Zigarre sog. Er spürte gar nichts mehr als einen eisigen Ring, der sich um sein Herz gelegt hatte.
»Mein Gott!« sagte er nur ab und zu. »O mein Gott …« ›Dank über das Grab hinaus …‹ Mariannes letzte Eintragung. Eine kraftlose Hand hatte noch unleserlich einige Kritzeleien an den Schluß gesetzt … Die Handschrift des Todes …
Dr. Barthels starrte in das dunkle Zimmer. Seine rotumränderten, müden Augen brannten.
Er hatte das unbändige Gefühl, in dieser Nacht noch zu Hansen gehen zu müssen, um ihn zu umarmen …
Am nächsten Morgen war die Nüchternheit wieder da. Der Bann, den Mariannes letzte Worte um Dr. Barthels gelegt hatten, war der juristischen Überlegung gewichen: Hatte dieses Tagebuch vollen Zeugenwert oder stellte es nur eine erschütternde Schilderung dar, in der sich Wahrheit und Dichtung vereinigten?
Oberstaatsanwalt Dr. Barthels packte das Tagebuch vorsichtig, als sei es aus zerbrechlichstem, dünnen Porzellan, in seine Aktenmappe. Er fuhr zu Professor Bongratzius und legte ihm die dicke Kladde auf den Tisch. Bongratzius las zunächst den Titel, ohne zu wissen, um was es sich handelte.
›Zu spät‹, stand auf dem Schildchen der Kladde.
»Die Beichte eines Verbrechers?« fragte Bongratzius neugierig.
Dr. Barthels legte seine Hand wie schützend über das Buch. »Die Beichte einer Sterbenden. Doktor Marianne Pechl hat bis zuletzt, bis der Tod ihr die Feder aus der Hand nahm, genau beschrieben, was in der ›See-Klinik‹ getan wurde. Es ist die umfassendste Schilderung der Hansen-Therapie, die ich bisher kenne. Es ist erschütternd und mahnend zugleich.«
Professor Bongratzius nagte an der Unterlippe. Er starrte auf die
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