Die Begnadigung
den sonnenüberfluteten Plöner See. Sanft, von einem leichten Wind gebläht, glitten einige weiße Segelboote durch das hellblaue Wasser. »Dort!« sagte Hansen und streckte den Arm aus. »In einem der Boote sitzt sie! In vier Wochen hoffe ich sie entlassen zu können …«
»In vier Wochen! Elfriede …« Dr. Barthels wischte sich den plötzlich ausbrechenden Schweiß von der Stirn. »Sie konnte kaum noch laufen, als sie zu Ihnen kam. Wir mußten sie ins Haus tragen …«
Hansen wandte sich langsam vom Fenster ab. »Wie gesagt, sicherlich war es kein Krebs! Denn dann wäre Ihre Schwägerin längst begraben! So – und nun verhaften Sie mich. Sagen Sie Ihren Spruch … ich folge Ihnen! Verabschieden darf ich mich doch noch?«
Oberstaatsanwalt Dr. Barthels tupfte sich über das Gesicht. »Sie machen es einem schwer. Ich tue nur meine Pflicht als Vertreter des Staates. Vielleicht stellt sich alles als haltlos heraus …«
»Nach einem Jahr … oder noch länger … denn so lange wird die Voruntersuchung dauern. Dann wird diese Klinik hier geschlossen und mein Lebenswerk zusammengebrochen sein … Was nutzt dann noch der Freispruch? Man hat erreicht, was man wollte: Die interne Krebstherapie des Dr. Hansen ist abgewürgt.«
Hansen ging zur Tür und stieß sie auf. Auf dem Gang war kein Platz mehr. Kopf an Kopf standen sie da, die Ärzte, die Schwestern, die Pfleger, die Putz- und Küchenmädchen, die Diätköchinnen, die gehfähigen Patienten, Wottke, Frau Wottke, Karin … ein Wall von Leibern, der sich Barthels entgegenstemmte, als er aus dem Zimmer wollte. Ein stummer Wall, Hunderte anklagende Augen. Barthels drehte sich zu Hansen um.
»Was soll das?«
»Sie nehmen Abschied … nehme ich an.«
»Bitte Platz!« rief Barthels. »Es handelt sich um eine Formsache!«
»Lassen Sie unseren Arzt hier!« rief ein Patient aus der Menge.
»Ohne Doktor Hansen sind wir verloren!« schrie eine Frau.
Oberstaatsanwalt Dr. Barthels senkte den Kopf. Hansen voraus ging er an der stummen Mauer vorbei in die Halle. Hansen folgte ihm, den Arm um die zuckende Schulter Karins gelegt. Die Treppe hinauf, über die Terrasse kam eine Frau gelaufen. Außer Atem, mit rotem Gesicht. Sie hatte ein weißes Kleid an und die grauen Haare mit einem Seidenschal zusammengebunden.
»Elfriede …«, stammelte Dr. Barthels. Er blieb stehen wie vor einem unbegreiflichen Wunder.
»Es stimmt also!« rief sie mit stockendem Atem. »Ich habe es nicht glauben wollen! Du hast Dr. Hansen verhaftet? Fehlt dir was? Bist du total verrückt?«
»Elfriede …« Dr. Barthels rang nach Worten. »Ich bin Staatsbeamter. Ich muß …«
»Ein armseliges Würstchen bist du!« Elfriede Barthels' Stimme überschlug sich. »Er rettet mir das Leben, und du verhaftest ihn! Ich werde dafür sorgen, daß die ganze Welt davon erfährt! In allen Zeitungen wird es stehen. Man verhaftet einen Arzt, weil er helfen wollte und geholfen hat!«
Dr. Hansen trat an Dr. Barthels vorbei auf die erregte Frau zu, zog sie rasch an sich und strich ihr über die Schulter. Dann ging er, den Blick starr geradeaus gerichtet hinunter zu Barthels' Dienstwagen.
Bevor er einstieg, wandte er sich noch einmal zu Karin, zu den Ärzten, Schwestern und Patienten um, die auf der Terrasse standen. Er winkte ihnen zu, so wie man Abschied nimmt für eine lange Zeit. Hansen biß die Zähne zusammen. Ich werde sie nicht wiedersehen, dachte er. Alle nicht … die Ärzte und Schwestern werden in andere Krankenhäuser gehen, die Patienten werden sich verlaufen, zurückkehren in ihre Heimatorte und dort, da kein Arzt sie mehr behandelt als Inkurable, in einigen Wochen oder Monaten sterben.
Sein Blick wanderte die Reihen entlang und verweilte kurz bei jedem einzelnen … sieben waren darunter, denen er Heilung hätte versprechen können. Hundertprozentig. Jetzt würden sie sterben müssen …
»Kommen Sie«, sagte Dr. Barthels leise …
»Und was wird nun?« fragte ein Patient, als der Wagen auf der Plöner Chaussee verschwunden war.
Dr. Summring hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Wir bekommen einen kommissarischen Leiter …«
Karin fuhr herum. Es war das erstemal, daß sie es hörte.
»Wissen Sie, wen?« rief sie.
»Man spricht von Dr. Färber …«
»Nie!« Karin preßte die Hände aneinander. »Das ist unmöglich …«
»Ab heute ist nichts mehr unmöglich«, sagte Dr. Reitmayer. »Und in spätestens sechs Wochen werden wir pleite sein … Glauben Sie, daß es einen einzigen gibt, der
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