Die Begnadigung
schwarzeingebundene Kladde und ahnte, daß hier der Schlüssel des ganzen vorbereiteten Prozesses vor ihm lag. Ein unangenehmes Gefühl beschlich ihn. Er wußte nicht, was Marianne Pechl geschrieben hatte, aber er befürchtete, daß es eine Huldigung Hansens sein würde.
»Warum bringen Sie mir das Buch, Herr Oberstaatsanwalt?« fragte er langsam.
»Ich möchte, daß Sie es durchlesen. Unter Wahrung strengsten Stillschweigens. Nach der Lektüre bitte ich um Ihre Expertise. Über Inhalt, Wahrheit der Schilderung, Gegenargumente … kurz: Sie sollen begutachten, welche Beweiskraft dieses einmalige Schriftstück hat. Ich sage Ihnen im voraus: Das hier ist die beste und glänzendste Verteidigung Hansens. Es ist theoretisch sein Freispruch!«
»Das habe ich mir gedacht.« Prof. Bongratzius sah wieder auf den Titel. ›Zu spät.‹ Natürlich ist es zu spät, dachte er bitter. Auch dieses Tagebuch rettet Hansen nicht mehr. Wo kämen wir hin, wenn eine von Tausenden Studenten aufgenommene akademische Lehre durch ein Tagebuch lächerlich gemacht werden könnte? Man müßte darüber mit Runkel und Lücknath sprechen.
»Ich werde es genau durchlesen«, sagte Bongratzius. »In acht Tagen hoffe ich, kann ich Ihnen mein Gutachten einreichen. Ich würde aber empfehlen, noch weitere Gutachten einzuholen. Schon um zu vermeiden, daß man von einer einseitigen Beurteilung sprechen könnte.«
»Natürlich. Ich werde das Tagebuch auch noch von einem Psychiater lesen lassen.«
»Sehr gut. An wen haben Sie da gedacht?«
»An Prof. Dr. Volkmar.«
»Ein Mann von internationalem Ruf.« Bongratzius war zufrieden. Volkmar war Bundesbruder und hatte manchen Altherrenkommers mitgemacht. Er kümmerte sich zwar gar nicht um das Problem Krebs und stand außerhalb aller Diskussionen über Lokalerkrankung oder Allgemeinerkrankung, aber Freundesdienst ist Ehrendienst.
Wie ein wertvolles Präparat schloß Bongratzius das Tagebuch in seinen Schrank. Dr. Barthels beobachtete ihn dabei und war seinerseits zufrieden. Der Ordnung halber unterschrieb Bongratzius die Aushändigung des Beweismittels und auch die juristische Belehrung, die damit verbunden war.
Genau eine Woche später hielt Dr. Barthels das Gutachten Prof. Bongratzius' in der Hand. Es war ein Sammelgutachten, unterschrieben von Bongratzius und Volkmar. Zehn Seiten war es lang, eng beschrieben, gespickt mit Fachausdrücken und lateinischen Sätzen.
Dr. Barthels interessierte das alles nicht … er blätterte herum und las mit Spannung das Resümee der zehn Seiten Wissenschaft:
›Zusammenfassend kommen wir zu der fest begründeten Ansicht, daß es sich hier um ein Tagebuch handelt, das nicht mehr im Vollbesitz der geistigen Kräfte geschrieben wurde. Durch die nachgewiesenen Hirnmetastasen und die dadurch bedingte weit herabgesetzte Denktätigkeit kann den Ausführungen nur ein psychiatrisch-pathologisches Interesse entgegengebracht werden, aber keine unanfechtbare Beweiskraft. Außerdem ist nicht zu erkennen, inwieweit der Einfluß Dr. Hansens zur Gestaltung des Tagebuches beigetragen hat. Es ist bekannt, daß Dr. Hansen in der letzten Zeit fast täglich stundenlang am Bett der Kranken saß. Er kann – dies ist nur als Hypothese zu verstehen – sogar der willenlosen Kranken ganze Passagen dieses Buches diktiert haben. Man gewinnt diesen Eindruck, wenn man verworrene Stellen mit plötzlich im gleichen Zeitraum geschriebenen ganz klaren Darstellungen therapeutischer Maßnahmen vergleicht. Dieser plötzliche Wechsel ist bei der Ausdehnung des Melanoms im Gehirn und der Metastasen nicht möglich. Außerdem stand die Kranke in den letzten Wochen unter starken Morphiumdosen, die sie in einem Halbtrance hielten, jenem Halbwachzustand, in dem der persönliche Wille weitgehend ausgeschaltet ist.
Wir müssen unter Wahrung strengster wissenschaftlicher Objektivität dieses Tagebuch als vollwertige Aussage ablehnen. Die Grenzen zwischen Dichtung und Wahrheit, zwischen klarem Denken und krankhafter Phantasie, zwischen eigenem Wollen und möglicher Beeinflussung sind so ineinanderlaufend und nicht mehr erkennbar, daß wir –‹
Dr. Barthels las nicht weiter. Er klappte die Blätter zu und schob sie in die Mappe ›Hansen‹.
»Das ist ja toll!« sagte er leise und wischte sich mit der Hand über die Augen. »Man kann tatsächlich mit einem Gutachten einen Menschen umbringen –«
Lange betrachtete er das mit dem Gutachten zurückgeschickte Tagebuch Marianne Pechls. Er ahnte, ja er wußte,
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