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Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
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Monate habe ich in einer Zelle gesessen, dachte er. Und doch ist es mir, als sähe die Welt ganz anders aus. Ich habe gar nicht gewußt, wie schön sie ist …
    Als die weißen Gebäude der ›See-Klinik‹ aufleuchteten, fuhr der Anwalt langsamer. Ab und zu warf er einen Blick auf Dr. Hansen.
    Vor der Terrasse stiegen sie aus. Hansen sah an dem Bettenhaus empor. Die Balkontüren waren geschlossen, die Läden davorgeklappt. Der Eingang war verriegelt. Auch an dem Ärztehaus waren alle Jalousien heruntergelassen.
    Hundert schlafende Augen. Oder hundert gestorbene Augen?
    Langsam ging Dr. Hansen die große Freitreppe hinauf. Von hier aus hatte Oberst Boncours seine Gymnastikübungen geleitet. Dort auf dem Rasen hatte man Golf gespielt und Korbball. Auf den Terrassen hatten sie gelegen, in Liegestühlen, mit kleinen Tischen daneben, über sich die bunten Sonnenschirme, Tagaus, tagein … fünfundsiebzig Schwerstkranke, die von ihrem unerbittlichen Schicksal wußten und doch glücklich waren.
    An der Eingangstür suchte Hansen in seinen Taschen nach dem Schlüssel. Dann schloß er auf und betrat die halbdunkle, ungelüftete Eingangshalle. Die Treppenläufer waren eingerollt. Die Klubgarnituren standen übereinander, mit Decken gegen Staub geschützt.
    Der Anwalt blieb in der Halle stehen, als Dr. Hansen sich dem langen Flur zuwandte. Er spürte, daß Hansen jetzt allein sein wollte.
    Die Hände in den Taschen seines Rockes, ging Hansen durch das große, verlassene Haus. Vor dem Röntgenzimmer blieb er stehen, vor dem Archiv, vor dem Klinikbüro. Die Karteikästen und Tische waren plombiert und versiegelt. Im Chefzimmer lagen noch die Fettstifte in der Schreibschale. Mit diesen Stiften hatte er auf den Röntgenbildern die Tumore und Metastasen eingekreist. Der Kalender war aufgeschlagen. Er zeigte das Datum seines Verhaftungstages.
    Mit dem Aufzug fuhr Hansen von Stockwerk zu Stockwerk. Von Station zu Station. Allein, den Kopf nach vorn gebeugt, machte er noch einmal seine Visite durch alle Zimmer … stand vor den leeren, abgezogenen Betten, nahm die Fiebertabellen in die Hand und sah auf ihnen die roten und blauen Kurven.
    In Zimmer 53 holte ihn Franz Wottke ein.
    »Chef!« stammelte er. »Der Chef ist wieder da! Der Chef!« Dann heulte er, die dicken Tränen rollten über seine von der Sonne gegerbten Wangen … er streckte beide Arme aus und lehnte sich kraftlos an den Türrahmen.
    »Chef …«, schluchzte er.
    Hansen mußte ein paarmal tief atmen, ehe er sprechen konnte.
    »Wottke … im Haus ist schlechte Luft! Sie sollten mehr lüften! Und die Matratzen nehmen wir aus den Betten und stapeln sie im Keller. Dann verstauben sie weniger.«
    »Ja … ja … Chef!« stammelte Wottke.
    »Wie geht es Lisbeth?«
    »Gut … gut …«
    »Das freut mich.« Hansen trat an Wottke heran und legte ihm den Arm um die Schulter. »Paß gut auf das Haus auf, Wottke.«
    »Ick werde es pflegen, als ob es voll belegt wäre …«
    »Hier werden nie mehr Kranke liegen, Wottke. Nie mehr. Das ist das einzige, was ich weiß …« Hansen trat hinaus auf den Flur.
    »Soll … soll Lisbeth was zu essen machen, Chef?« stotterte Wottke hinter ihm.
    »Nein, danke, Wottke. Ich fahre wieder …«
    »Aber Sie müssen mitkommen. Dem Heinrich läuft die Nase …«
    »Dann putz sie ihm …«
    »Und die Irene hat Fieber. Und der Walter hat 'nen vereiterten Finger … und …«
    »Warum machen wir es uns so schwer, Wottke?« Hansen ging den Flur hinab zum Aufzug. »Wir sehen uns bald wieder. Aber nicht hier.« Er klopfte ihm auf die Schulter, stieg in den Aufzug und fuhr hinab in die Eingangshalle.
    Oben, im dritten Stockwerk, lehnte Wottke den Kopf gegen die Glastür des Aufzugschachtes.
    »Chef!« schrie er in die Tiefe hinunter. »Ick lasse mir zerreißen, wenn's hilft …«
    Karin stand im Vorgarten, als der Wagen endlich über die Landstraße rauschte, aus dem Birkenwäldchen heraus.
    Seit zwei Stunden stand sie dort zwischen den Hollunderbüschen und dem Goldregen, den Rosenbeeten und Dahlienstauden. Sie riß beide Arme empor, als der Wagen aus der grünen Wand herausschoß, und winkte mit ihrem Kopftuch.
    »Jens!« schrie sie. »Jens! Jens!« Dann rannte sie auf die Straße, dem Wagen entgegen, mit ausgebreiteten Armen, als wolle sie alles, was ihr entgegenkam, an ihr Herz drücken.
    Kurz vor ihr bremste der Anwalt. Hansen riß die Tür auf. Er rannte die wenigen Schritte auf Karin zu, umschlang sie und schloß die Augen. Sie küßte ihn, immer und

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