Die Begnadigung
riß die Tür auf, rannte über den langen Gang, durch die Halle und hinaus in den Schnee.
Dr. Marianne Pechl sah Hansen aus dem Haupthaus stürzen.
Hansen rannte grußlos an ihr vorbei, hinüber zur Garage.
Dr. Pechl stand mit herabgesunkenen Armen im Schnee und sah Dr. Hansen nach. Merkwürdig, dachte sie. Er hat noch nie Launen gehabt …
Ehe Hansen nach Hamburg aufbrach, wollte er für alle Fälle seinen Schwager Hugo Kieling anrufen. Er erreichte ihn gerade noch vor der Mittagspause in der Anwaltspraxis.
Hugo Kieling tat sehr erstaunt. »Wie es Karin geht? Na hör mal! Ich habe dir immer zugute gehalten, daß du ein Phantast bist, aber daß du neuerdings auch noch Paschamanieren entwickelst, das geht für mein bescheidenes Fassungsvermögen doch schon ein bißchen zu weit …«
»Ich will nach Hamburg kommen. Deshalb rufe ich an. Ich will mit Karin über alles sprechen …«
»Worüber? Du hast klare Tatbestände geschaffen. Diese Frau Färber ist bei dir …«
»Ja …«
»Was versprichst du dir da noch von einer Aussprache? Karin hat mich beauftragt, die Scheidung einzureichen. Vorher hätte Karin einen Teil der Schuld auf sich nehmen müssen. Jetzt trägst du sie allein. Das ist dir doch klar?«
»Ja. Aber …«
»Kein Aber, mein Lieber! Wenn du einen operablen Krebs siehst, überweist du ihn an die Chirurgie. Auch Karin ist noch zu retten, wenn sie radikal von dir getrennt wird. Für chirurgische Eingriffe müßtest gerade du Verständnis haben.«
Das also war der Stand der Dinge. Er hatte Karin endgültig verloren. Statt Karin war Herta Färber bei ihm, die er nie hatte gewinnen wollen …
Plötzlich befiel ihn eine panische Angst. Er spürte, daß die seelischen Belastungen über seine Kraft gingen. Von Tag zu Tag wurde er mehr von persönlichen Dingen in Anspruch genommen, abgelenkt. Konnte, durfte er sich das leisten? Er war dabei, sich auch noch an seinen Patienten schuldig zu machen, die sich mit ihren letzten Hoffnungen völlig in seine Hand gegeben hatten.
Er riß seinen weißen Kittel von der Garderobe, streifte ihn hastig über und ging hinüber zum Speisesaal. Seine Patienten sollten sehen, daß er bei ihnen war, für sie da war. Gewiß kam keinem der Gedanke, daß er sich in Wirklichkeit zu ihnen geflüchtet hatte, um nicht mit seinen Qualen allein zu sein …
Im Speisesaal saß Dr. Marianne Pechl an der großen Glastür. Wie in einem Hotel waren die Tische gedeckt. Weiße Tischtücher, gefaltete Servietten. Karaffen mit Brunnenwasser oder Fruchtsäften. Weiß gekleidete Mädchen trugen die Speisen herum. Die Patienten wirkten wie Kurgäste – wenn man nicht wußte, wie es um sie stand.
Dr. Pechl stand auf, als Hansen in den Speisesaal kam. Sie musterte ihn verstohlen. Sein Gesicht war wie eine Maske. Was hat er nur, dachte sie. Beginnen schon die Angriffe, kaum, daß wir zu arbeiten angefangen haben? Verheimlicht er uns etwas?
Hansen blickte über die Tische. Einige Stühle waren leer. Gestern saßen sie noch dort, vier Frauen und ein Mann. Daß sie jetzt fehlten, sah jeder in der großen Gemeinschaft. Jeder wußte, was dieses Fernbleiben bedeuten konnte …
»Zimmer zwölf, sechzehn und dreiundzwanzig«, sagte Marianne Pechl leise.
»Ich sehe gleich nach.« Hansen ging durch die Tischreihen, schüttelte die Hände und setzte sich auf einen der leeren Stühle. Eines der weißgekleideten Mädchen deckte sofort den Tisch. Ein Glas mit Fruchtsaft, Platten mit verschiedenen Gemüsen, eine Rohkostplatte, körniger Vollreis, Salate und frisches Obst. Sauermilchkäse. Scheiben von Weizenkeimbroten. Naturreine Kost, frei von allen chemischen Zusätzen, nur gesalzen mit Meersalzen. Nicht eine einzige Reizung nahm der Körper mit diesem Essen in sich auf.
Hansen aß ein paar Bissen, weil man ihn beobachtete. Seine Erregung klang ab. Hier gehöre ich hin, fühlte er plötzlich. Mitten unter meine Kranken. Hier ist mein Platz. Alles andere ist unwichtig.
Ihm schräg gegenüber saß Emile Boncour, Oberst der französischen Armee. Er war einer der ersten Patienten, die sich gemeldet hatten. Seine Krankenberichte waren trostlos.
Ein Streit in einer französischen Zeitung über die Heilung des dänischen Reeders Svensson hatte ihn nach Plön gebracht. Er fiel durch seine vorbildliche Haltung, durch seine tadellosen Manieren sofort auf. Nach zwei Wochen bereits hatte er das Kommando beim Frühsport übernommen. Er war glücklich, wieder eine Aufgabe zu haben und ging in ihr auf.
Neben ihm
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