Die Begnadigung
bereits zur Post gebracht, Jens.«
Sie sah, daß er betroffen auf die Papiere vor sich sah und blieb vor ihm stehen, die Hände auf die Schreibtischplatte gestützt.
»Du hast ja deine Klinik – und ich habe dich. Jeder kämpft um das Seine mit allen Mitteln.«
Jens Hansen sah ihre Hände auf dem Schreibtisch, mit den langen feingliedrigen Fingern, den schwach lackierten Nägeln – und plötzlich war die Sehnsucht wieder stärker als die Vernunft. Die Angst vor der Einsamkeit größer als die Furcht vor der Gefahr.
Dr. Hansen stand auf und trat hinter Herta. »Ich muß dich wieder fragen, warum du mich eigentlich liebst?«
»Ich weiß es nicht. Ich muß es.«
Die Aufzeichnungen über die ersten neununddreißig Patienten der See-Klinik waren niederdrückend. Dr. Wüllner kannte die Röntgenaufnahmen. »Es ist mir ein Rätsel«, hatte er zu Dr. Marianne Pechl gesagt, »wie Hansen diese aufgegebenen Fälle behandeln will.«
Und als die Kollegin schwieg, hatte er hinzugefügt: »Wenn er nur bei einem Erfolg hat, kann er mehr als alle anderen zusammen!«
Täglich kamen neue Fälle, der Wettlauf um das Leben hatte eingesetzt, das Klammern an den Strohhalm, der für viele ›See-Klinik Dr. Hansen‹ hieß.
Und genau vierzehn Tage nach der Eröffnung kam Franz Wottke in Dr. Hansens Ordinationszimmer.
Er wirkte müde und ein klein wenig ängstlich.
Wottke hatte keinen Patienten anzukündigen. Hansen wußte es, als er sein Faktotum vor sich sah.
»Ist Ihnen nicht gut, Wottke?«
»Doch, doch, Chef … aber«, er sah Hansen an, als ob er ihn um Entschuldigung bitten müsse. »Sie bekommen Besuch, Chef.«
Wottke war mit ein paar raschen Schritten wieder an der Tür.
»Herr Oberarzt Dr. Färber möchte Sie sprechen!«
Hinter ihm wurde die Tür aufgerissen. Dr. Färber schob Wottke aus dem Zimmer und schloß hinter ihm die Tür. Groß und breit stand er Hansen gegenüber. Dr. Hansen nickte ihm zu.
»Herr Färber …« Auf diesen Besuch war Hansen am wenigsten gefaßt. Was sollte er ihm erklären? Er konnte nicht mehr rückgängig machen, was geschehen war. »Ich vermute, Ihr Besuch gilt weniger meiner Klinik, als …«
Oberarzt Dr. Färber setzte sich nicht, obwohl Hansen ihm einen Sessel anbot. Bleich blieb er stehen und starrte Hansen an.
»Herta schrieb mir, daß sie die Scheidung will.« Es fiel Färber schwer, den Namen seiner Frau auszusprechen.
»Es geschah ohne mein Wissen und gegen meinen Willen …«
»Sie haben sich stets vor Konsequenzen gedrückt, ich weiß.«
Hansen schluckte die bösen Worte. Auf Färbers Seite stand das Recht. Ein Betrogener darf beleidigen …
»Wenn ich Ihnen erklären darf, Herr Färber …«
Dr. Färber hob beide Hände. »Bitte, keine Erklärungen! Die Motive sind für mich völlig uninteressant. Ich will nur wissen, wie Sie sich den weiteren Fortgang denken … Ich habe übrigens Ihrer Frau …«
Hansen fuhr herum. Er hatte sich abgewandt, um dem Blick Färbers zu entgehen.
» Was haben Sie?« rief er entsetzt.
»Ihrer Frau die Wahrheit mitgeteilt.«
»Sie …«
Hansen war auf ihn zugetreten, sie standen so nahe voreinander, daß sie sich fast berührten.
»Sie betrügen Ihre Frau und haben nicht einmal das bißchen Ganovenmut, es ihr zu sagen!«
Dr. Färber drehte sich um und ging zum Fenster. »Ich habe sie angerufen. Sie nahm es gelassen auf. Ich möchte fast sagen: Nach ihrem Kind ist Ihre Frau das zweite Opfer Ihrer Klinik. Und das dritte – meine Frau … Wenn das so weitergeht, sollten Sie neben Ihren Assistenzärzten auch einen Scheidungsspezialisten einstellen.« Die ganze Verbitterung Färbers lag in seinen Worten. »Ich habe nie gewußt, daß man die biologische Therapie so weit ausdehnen kann …«
Hansen hob die Arme. Er war hilflos, er machte kein Hehl daraus.
»Ich habe Ihnen nichts entgegenzusetzen als die Liebe Hertas«, sagte er leise, »und die habe ich weder gewollt noch gesucht. Aber es ist geschehen, und ich stehe Ihnen zur Verfügung – das ist alles, was ich noch kann!«
»Zur Verfügung! Was sollen denn diese Phrasen? – Sie wollen Herta also hier behalten?«
»Sie will bleiben! Ich habe durch meine Schwachheit Herta zu Konsequenzen ermutigt, die ich nie im Sinn hatte. Ich werde sie tragen müssen …«
»Müssen! Sagen Sie bloß noch: Sie sind ein Märtyrer! Aber das waren Sie ja immer. Märtyrer des Berufes, nun auch Märtyrer der Liebe! Wenn man Ihnen zuhört, besteht die Welt nur, damit Sie sie erleiden können! Machen Sie
Weitere Kostenlose Bücher