Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Begnadigung

Die Begnadigung

Titel: Die Begnadigung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinz G. Konsalik
Vom Netzwerk:
wird die Ehe …« Unterschriften, Siegel, Beglaubigungen.
    Dr. Hansen saß vor dem Scheidungsurteil und las es immer wieder durch. Es war ihm unheimlich, wie man mit ein paar nüchternen Worten einen Menschen aus dem Leben eines anderen wegreißen kann. Wie alles, was gewesen war, nicht mehr vorhanden ist. Wie eine Vergangenheit plötzlich dunkel wurde, abstarb, sich zersetzte, bis nichts mehr übrigblieb als eine Erinnerung.
    Herta Färber vermied es, ihm an diesem Tag zu begegnen.
    Er gehört jetzt mir, dachte sie. Er und die Klinik. Einmal wird er berühmt sein, und ich mit ihm.
    Aber am Abend ging sie zu ihm. Seine Tür war abgeschlossen. Sie klopfte. Hansen öffnete nicht. Sie klopfte stärker.
    Franz Wottke fuhr in seinem Bett hoch. Die Geräusche hatten ihn aus seinem besten Schlaf gerissen. Er lauschte und zog dann die Bettdecke über seinen Kopf.
    Hansen dachte nicht daran aufzuschließen. Er saß am Tisch und hatte das Scheidungsurteil und eine Röntgenplatte vor sich.
    Die Platte des kleinen Herbert Brendeis. Der Lungentumor des Jungen war zum Stillstand gekommen. Aufhellende Schatten zeigten, daß er sogar zusammenschrumpfte. Vielleicht war es doch noch möglich, ihn für eine Operation vorzubereiten.
    Hansen schob Scheidungsurteil und Röntgenplatte zur Seite und löschte das Licht.
    Ende und vielleicht Anfang … wie nahe liegen sie beieinander. Wie verwischt sich alles im menschlichen Leben. Man sollte jede Stunde nutzen … jede Minute freudig begrüßen, weil sie noch uns gehört.
    An der Tür klopfte Herta immer noch.
    Hansen stellte sich in der Dunkelheit ans Fenster und sah hinaus auf den Klinikgarten, auf das Schwesternhaus, auf den wie eine schwarze Scheibe unter ziehenden Wolken liegenden See.
    Meine Klinik, dachte er. Ich will nur noch an meine Kranken denken. Nur noch an sie! Mein persönliches Leben liegt in einem Aktendeckel des Landgerichts II in Hamburg. Dort mag es verstauben …
    Am nächsten Tag ging der kleine Herbert Brendeis mit Lisbeth Burker am Seeufer spazieren und ließ flache Steine über die glatte Fläche des Wassers flitschen.
    Mit einemmal warf er beide Arme hoch in die Luft und machte einige Drehungen um sich selbst. Lisbeth Burker dachte erst, es wäre Spaß, aber als sie seine starren Augen sah, durchfuhr sie ein eisiger Schreck … sie stürzte zu ihm, sie umschloß ihn mit ihren dünnen Armen wie schon so oft, wenn er einen der bösen Hustenanfälle bekam. Es hatte ihm immer geholfen. Dieses Mal nützte es nichts mehr …
    Aus dem weit geöffneten Mund Herberts drang Blut und rann über die Arme Lisbeth Burkers. Sie schrie, schrie grell und legte den wachsbleichen Herbert ins Gras. Sie wußte sich keinen anderen Rat, und in ihrer Angst schöpfte sie Wasser in Herberts Mütze und wusch ihm das Gesicht. Viermal nahm sie die Mütze und schöpfte Wasser nach und wusch das Blut ab. Bis sie merkte, daß sie einen Toten wusch …
    Oberst Boncour hatte mit zwei anderen Patienten den Schrei vom See gehört. Sie hatten Pfleger alarmiert. Als sie bei Lisbeth Burker erschienen, kniete sie neben dem toten Herbert Brendeis.
    »Laßt mich!« schrie sie und schlug dabei wie eine Rasende um sich, als die Pfleger sie von dem toten Kind wegziehen wollten.
    Zwei Männer hatten Mühe, Lisbeth Burker, die kleine Schneiderin, zu überwältigen.
    Später lag sie apathisch im Bett und starrte an die Decke oder auf die vor ihrem Balkon vorüberziehenden Wolken. Sie ließ die Bluttransfusionen über sich ergehen, die Krebstherapie, die keine Minute unterbrochen wurde … aber nicht nur sie, die nicht mehr leben wollte, sondern auch Dr. Hansen wußte, daß der große seelische Schock die vergangenen Monate in einer Sekunde weggewischt hatte. Von Tag zu Tag verfiel Lisbeth Burker, siechte dahin und sprach auf keine Mittel mehr an.
    Dr. Wüllner, auf dessen Station Lisbeth Burker lag, machte den Vorschlag, die Behandlung einzustellen und sie als ›Pflegefall‹ nach Hause zu schicken.
    »Sie werden hier nie erleben, daß wir etwas aufgeben«, sagte Dr. Jens Hansen bei der täglichen Ärztebesprechung nach der Visite. »Alle, die hier bei uns liegen, sind ja bereits aufgegebene Fälle.«
    »Aber es hat ja keinen Sinn mehr!« rief Dr. Wüllner.
    »Wissen Sie das so genau, Herr Kollege?« Hansen sah ihn groß an. Der junge Arzt wurde rot, aber er hielt dem Blick stand.
    »Wir können an den Erfahrungen der Klinik nicht vorbeigehen«, sagte er. »Der Prozeß ist bei der Patientin so weit

Weitere Kostenlose Bücher