Die Begnadigung
Fräulein Pechl? Gehen wir auf Zimmer sechzehn. Wie steht's da?«
»Eine Hirnembolie. Dr. Adenberg ist bei der Patientin.«
»Und Zimmer dreiundzwanzig?«
»Endstadium der Kachexie. Dr. Summring ist auf dem Zimmer.«
»Kommen Sie!«
Hansen ging ihr voraus.
An der Tür von Zimmer sechzehn hing ein Schild. ›Eintritt verboten‹. Hansen drückte leise die Klinke herunter. Dr. Adenberg stand vor dem Bett und schloß die Fiebertabelle ab: Ex 13.19 Uhr.
Ein Mensch war gegangen und kam nie wieder.
Vor zwei Tagen hatte er noch im Schnee gekniet und die schmelzenden Kristalle in seinen Händen betrachtet …
Hansen senkte den Blick. Der vierzehnte Todesfall innerhalb von sechs Wochen …
Über Nacht war ein warmer Wind aufgekommen, hatte den See aufgewühlt, und die letzten Eisschollen zerrieben sich aneinander. Der Schnee löste sich in Matsch und Rinnsale auf. Als der Morgen dämmerte und Wottke zum Heizungskessel ging, sah er vor dem Haupthaus schon den Rasen durchschimmern, er sah das eisfreie Ufer, die blaue Fläche des Sees und einen reinen, wolkenlosen Himmel.
Auch die Frühaufsteher unter den Kranken hatten den Wetterumschwung festgestellt. Sie standen schon auf den Balkons.
Für Oberst Boncour war der Frühling nicht so sehr ein Erlebnis wie vielmehr ein willkommener Anlaß, sich ein weiteres Betätigungsfeld zu erschließen. Er stellte Gärtnerkolonnen zusammen, die sich der Anlage und Pflege der Blumenbeete widmeten. Jeden Morgen nach dem Frühstück hielt er Geräteappell ab. Dann teilte er die Gruppen an ihre von ihm bestimmten Einsatzplätze ein, wo er endlich ihrer eigenen Initiative allen Spielraum gewährte – bis er zur Kritik erschien, bei der er manchmal mit herben Worten nicht sparte. Aber ob er Lob oder Tadel verteilte, die Patienten hatten ihren Spaß daran, und sie vergaßen darüber eine Weile, daß sie Patienten waren …
In diesen Wochen hatte Dr. Hansen wenig Zeit für seine privaten Sorgen. Siebzig Patienten bewohnten jetzt die hellen, sonnigen, luftigen Zimmer mit den Blumenkästen und den Balkons zum See hinaus. Sie mußten Tag und Nacht versorgt, gepflegt, behandelt, betreut, angehört, beraten und getröstet werden. Für sie alle mußte er zu jeder Stunde da sein …
Von Karin hatte Hansen kürzlich gehört. Schwager Hugo Kieling hatte eine Gentleman-Scheidung vorgeschlagen. Kurz und ohne Aufsehen: Übernahme aller Schuld, Unterhaltsverpflichtung … Hansen willigte ein. Dreimal hatte er noch versucht, mit Karin in einen persönlichen Kontakt zu kommen. Er scheiterte an der Frage Kielings: »Ist diese Färber noch bei dir?« Sooft Hansen mit einem Ja antwortete, hängte Kieling ein.
Herta Färber aber schien trotz allem zum Bleiben entschlossen zu sein. Sie klammerte sich an Hansen und die Klinik, und Hansen war nicht stark genug, gegen seine Schwäche anzugehen.
Dr. Hubert Färber hatte durch seinen Anwalt mitteilen lassen, daß er eine Scheidung ablehnte. Das war ein Gedanke von Professor Runkel, dem sich Färber anvertraut hatte.
»Scheidung? Sind Sie dumm, Färber?« hatte Runkel gesagt. »Lassen Sie Ihre Frau bei diesem Hansen! Vielleicht brauchen wir diesen Umstand noch einmal, wenn er in seinem medizinischen Irrsinn zu gefährlich wird. Eine Klinik, in der solche Privatverhältnisse zur Tagesordnung gehören, dürfte jedes Gericht als nicht tragbar ansehen. Man muß weiter denken, Färber …«
Oberarzt Dr. Färber, der angehende Dozent, machte auch in diesem Fall die Ansicht des Chefs zu seiner eigenen. Obwohl ihm immer gewisser wurde, daß er nur das Werkzeug war, mit dem Runkel den unbequemen Hansen vernichten wollte. Ein Werkzeug – auch das wußte Färber –, das man nach Gebrauch wegwerfen würde. Man wurde dann bestenfalls weggelobt.
Eines Tages bemerkte Professor Runkel, wie Färber sein inneres Gleichgewicht und sein zerbrochenes Selbstbewußtsein wieder zu erlangen suchte. Zufällig kam er dazu, wie Färber während einer Operation den Mundschutz über das Kinn herunterzog – und nach Alkohol roch.
Runkel mochte ahnen, was in Färber zerbrochen war. Wortlos schob er die erbleichenden Assistenten zur Seite und verließ wieder den OP-Saal.
Karins Scheidung hatten die Anwälte miteinander ausgehandelt. Es war eine Angelegenheit von Minuten gewesen. Was von einer zehnjährigen Ehe übrigblieb, war ein eng beschriebener Bogen Papier. Worte in nüchternem Juristendeutsch: »… da der Ehemann Hansen sich wiederholter ehelicher Verfehlungen schuldig machte,
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