Die Begnadigung
fortgeschritten, daß …«
»Natürlich können wir nicht daran vorbeigehen, Wüllner«, sagte Hansen. »Aber immer mehr häufen sich die Beweise, daß eine Rückbildung der bösartigen Geschwülste eintreten kann unter Bedingungen, die völlig rätselhaft sind. Die These der Pathologie, daß Krebs etwas Unwiderrufliches sei, ist in letzter Zeit erschüttert worden. Denken Sie an die aufsehenerregenden Berichte von Dr. Everson und Dr. Cole aus der Universität von Illinois: Viele Ärzte sahen eine von Pathologen eindeutig als Krebs bezeichnete Geschwulst einschrumpfen und verschwinden! Ohne Operation, ohne Bestrahlungen … ohne jede Therapie überhaupt. Selten, aber erwiesen.«
Dr. Hansen hob die Schultern, als er den Blick Wüllners sah.
»Nennen Sie es von mir aus Wunder oder Seltenheiten oder was sonst. Es gibt solche Heilungen, und da sie es gibt, dürfen wir nie und nimmer sagen: Wir tun nichts mehr! Wollen Sie verantworten, zu sagen, Kollege Wüllner, daß bei Fräulein Burker eine solche Heilung ausgeschlossen ist?«
Dr. Wüllner schwieg.
»Sehen Sie …«, sagte Hansen und verließ das Zimmer.
Marianne Pechl trat auf Wüllner zu: »Ich habe Ihnen angesehen, daß Sie noch einiges auf dem Herzen hatten …«
»Natürlich«, sagte Wüllner. »Die Klinik besteht jetzt sechs Monate, und wieviel Heilungen haben wir bisher gehabt? Keine!«
»Das wollten Sie dem Chef sagen?« fragte Marianne erschrocken.
»Er hat mich gereizt, Kollegin.«
»Wissen Sie, was er Ihnen geantwortet hätte? Ich kann es Ihnen für ihn sagen: Lieber Wüllner – hätte er Ihnen gesagt – daß über die Hälfte unserer ersten Patienten noch lebt … nach sechs Monaten … das allein ist ein ungeheurer Erfolg. Theoretisch gesehen müßten sie schon seit längerer Zeit tot sein! Sie kamen zu uns mit den Prognosen: Noch vier bis sechs Wochen! Aber sie leben immer noch! Schämen Sie sich, Kollege!«
Wüllner senkte den Kopf.
»Ich will's versuchen. Falls Sie mir dabei helfen …«
Marianne Pechl mußte laut auflachen.
»Im Ernst«, sagte Wüllner, »Sie müssen mir helfen …« Was er wohl haben mag, dachte Marianne.
»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Kollegin. Wir nehmen uns ein Boot und fahren endlich einmal über den See …«
»Das – das muß ich mir sehr überlegen!« Marianne Pechl verstand es meisterhaft zu verbergen, daß ihr Herz einen Sprung machte. »Aber vielleicht«, sagte sie träumerisch, »wäre es wirklich das beste, wenn ich Sie mitten auf dem See aus dem Boot werfe …«
Sie wandte sich ab und rannte über die Terrasse und über die große, blumeneingefaßte Wiese hinüber zum Ärztehaus.
Wüllner sah ihr nach. Als er schluckte, spürte er, wie sein Hals vor Trockenheit brannte. Mein Gott, dachte er. Ich bin ja verliebt …
In Zimmer 37 lag der Buchhalter Ernst Wrobitsch. Er hatte ein inoperables Magenkarzinom und war nur noch ein Skelett. Er war seit vier Monaten in der ›See-Klinik‹ und war für jeden Tag, den er lebte, so unendlich dankbar wie kaum ein anderer der siebzig Patienten. Jeden Morgen ließ er sein Bett auf den Balkon rollen. Dort blieb er den ganzen Tag unter einem großen Sonnenschirm, sah über den See, über die Bäume, über die Gartenanlagen, die Blumen und Wege, sah die Wolken ziehen und die weißen Segel der Boote und lauschte selig dem Zwitschern der Vögel.
»Ich weiß, daß ich bald alles nicht mehr hören und sehen werde«, sagte er einmal zu Dr. Marianne Pechl, auf deren Station er lag. »Wenn man das weiß, ist jedes Wolkenschloß, jeder Vogellaut, jedes Brummen eines Automotors etwas Wunderbares, das man nicht überhören soll …«
Nun war sein Verfall so weit fortgeschritten, daß er selbst die Spatzen vorm Fenster nicht mehr wahrnahm. Noch ließ Dr. Hansen seine auf Breitenwirkung abgestimmte Therapie ablaufen, getreu dem Klinikgedanken: Nie aufgeben! Immer hoffen! Aber der geschwächte Körper ging nicht mehr mit. Er war müde … er wollte ausruhen. Für immer.
Marianne Pechl saß in der Nacht am Bett Ernst Wrobitschs und wartete auf den Tod. Sie hatte Wrobitsch eine Morphiumspritze gegeben, mit Erlaubnis Hansens, der noch Anmeldungen durchsah, die täglich eintrafen, Röntgenplatten, Krankengeschichten, Todesurteile …
Leise öffnete sich die Tür des Zimmers 37. Dr. Friedrich Wüllner trat ein. Er nickte, als Marianne die Hand hob, und blieb stehen.
Ernst Wrobitsch hatte die Hände Dr. Pechls umklammert und sah sie aus flatternden Augen an. Er war bei vollem
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