Die Begnadigung
Verstand, und er spürte, daß es die letzten Minuten waren.
»Das Leben war so schön«, sagte er mühsam. Sein Kehlkopf in der schlaffen Halshaut sprang auf und nieder, während er redete. »Ich … ich habe drei Kinder … sie werden hierher kommen … nachher … Sagen Sie ihnen, wie schön das Leben ist …«
Marianne nickte. Sie sah kurz hinüber zu Dr. Wüllner. Sein ernstes Gesicht lag im Schatten des Türrahmens. Sterben und Sehnsucht in einem Raum, dachte sie.
Langsam kam Dr. Wüllner näher.
Ernst Wrobitsch drehte ihm den Kopf zu und erkannte ihn. Seine Augen, schon in der Weite des Unendlichen, in das er hinüberglitt, versuchten, zwischen Wüllner und Marianne Pechl hin und her zu blicken. Sein bis zum letzten Atemzug klarer Verstand, dieses schrecklich normal arbeitende Gehirn in einem zergehenden Körper zauberte ein mattes Lächeln auf die blaßblauen Lippen.
»Er … er liebt sie, Doktorin …«, sagte er mühsam. Marianne schauderte zusammen. Frierend sah sie zu Wüllner empor.
»Das … das Leben ist so schön …« Ernst Wrobitschs Hände tasteten wieder über die Bettdecke. Sie wurden unruhiger, der Atem flog plötzlich … als Wüllner sich niederbeugte und den Puls fühlte, fand er ihn nicht. Der Glanz in den Augen verlosch, als drehe innen im Körper jemand langsam die Lebensflamme ab. »So schön …« Wrobitsch stöhnte und bäumte sich auf. Mit beiden Händen griff er nach Marianne Pechl, klammerte sich an sie. Dann fiel er nach hinten. Es war vorbei …
Vorsichtig, als könne es noch schmerzen, legte Wüllner seine Hand über Wrobitschs starre Augen und schob die Lider herunter. Noch immer hielt Marianne Pechl den erschlaffenden Körper umarmt … erst, als Wüllners Hand von Wrobitschs Gesicht glitt, schien sie zu begreifen, daß es zu Ende war. Sie löste sich behutsam von Wrobitsch …
Als sie aufblickte, stand Wüllner am Bettende, das Krankenblatt in der Hand. Er hob seine Armbanduhr an die Augen und notierte die Sterbezeit.
»Es ist gut, daß du gekommen bist«, sagte Marianne Pechl leise. »Ich habe schon viele sterben sehen … in diesem Hause … aber sie waren nicht wie er. Bei vollem Verstand … und so voller Lebensfreude …« Sie strich sich die Haare aus der Stirn.
Wüllner legte das Blatt zur Seite auf den kleinen weißen Zimmertisch. Eine Vase stand darauf, mit einem Strauß bunter Sommerblumen. Die Kinder des Buchhalters Wrobitsch hatten ihn gestern geschickt. Erst gestern.
Gestern … und jetzt lag dieser Ernst Wrobitsch unter der weißbezogenen Decke, die Dr. Pechl ihm über das gelbweiße Gesicht gezogen hatte. Ein langgestreckter Körper, Knochen mit Haut bespannt, ausgehöhlt von einem heimtückischen Feind, der sich zunächst als harmloses Geschwür eingenistet hatte, von dem der Hausarzt nur sagte: »Lieber Herr Wrobitsch … ein kleines Magengeschwür! Kommt wahrscheinlich vom Ärger im Büro. Aber das kriegen wir.«
Dr. Wüllner schob die Vase mit den Sommerblumen hin und her. Marianne beobachtete ihn, seine Hände, seinen breiten Rücken, den Haaransatz seiner blonden Haare, die in den Nacken hineinwuchsen. Muß zum Friseur, dachte sie plötzlich ganz fraulich. Daß man Männer immer zum Friseur treiben muß!
»Ich bin gekommen, um dir etwas zu sagen, Marianne …«
»Jetzt? Um diese Zeit? Hier …?«
»Ja!« Wüllner umklammerte die Vase. »Halt mich ruhig für pietätlos, Marianne. Gerade hier …«, er schluckte … »Verdammt … Marianne: Wollen wir heiraten?«
»Findest du es nicht verrückt, mich das gerade jetzt zu fragen?« Marianne Pechl saß noch immer auf der Bettkante, hinter sich den toten Wrobitsch. Er liebt Sie, kleine Doktorin, hatte er wenige Minuten vor seinem Tod gesagt. Sie zog schaudernd die Schultern hoch.
Wüllner nickte. »Ja … es ist verrückt, Marianne. Du brauchst ja auch nur Ja zu sagen …«
»Soll ich dich etwa auch noch küssen? Jetzt?«
»Nein! Du hast recht!« Wüllner drehte sich herum. Sein Blick war der eines geprügelten Hundes. »Aber du mußt das verstehen … seit zwei Tagen will ich dich fragen … ich bin randvoll von Glück und Erwartung und Hoffnung und … und … Ja, ich geh ja schon … Ich rufe den Pfleger …« Er ging zur Tür, zögerte und drehte sich noch einmal um. Marianne saß noch immer auf der Bettkante. Der zugedeckte Körper neben ihr zeichnete sich durch die Decke deutlich ab. Wie eine stumme Wächterin saß sie da. Mit großen Augen. »Wir haben noch einen Sarg im Haus …«,
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