Die beiden Seiten der Münze (German Edition)
Der ist jedoch schon sehr alt, lebt alleine und hat noch nie in seinem Leben etwas von Lynn gehört.
Lynn war anscheinend sehr einsam und hat sich psychisch irgendwie geteilt. Ich bin kein Psychologe oder Psychiater, deshalb kann ich das auch nur laienhaft wiedergeben. Ein Fachmann kann ihnen das sicherlich genauer erklären.
Sie hat sich in zwei Persönlichkeiten gespalten. Die eine, Lynn war defensiv und schwach, Cedric hingegen offensiv, stark und dominant. Cedric war alles, was sie selbst nicht war. Eine Persönlichkeit konnte aber nicht ohne die andere existieren. Martin hat gedroht, Lynn die Wohnung wegzunehmen – das konnte Cedric nicht zulassen. Therese drängte Lynn zu einer Therapie und versuchte Lynn zu überreden, sich von Cedric zu trennen. Deshalb musste sie sterben. Ich kann über die Auseinandersetzung, die sie mit ihrer Mutter hatte nur spekulieren – aber auch diesen Mord können wir ihr eindeutig zur Last legen.“
Wir haben übrigens auch die Mordwaffe gefunden. Es war eine zugespitzte Feile, wie man sie normalerweise für Holzarbeiten verwendet. Sie war noch voll mit Blutspritzern und überall waren Lynn's Fingerabdrücke darauf. Dieses Werkzeug hat für diese grauenhaften Verletzungen am Hals der Mordopfer gesorgt. Auch die Verletzungen an ihrem eigenen Körper hat sie sich damit selbst zugefügt. Der Pathologe fand keine einzige Bisswunde.“
„Aber ich verstehe das nicht“ entgegnete Alex. „Lynn war nie aggressiv. Ich hätte ihr so etwas nie zugetraut. Warum hat sie sich umgebracht?“
„Wir denken, dass ihr der Mord an Therese sehr zugesetzt hat. In ihrer Persönlichkeit als Lynn hat sie Therese wie eine Schwester geliebt. Cedric war ein Teil von ihr selbst, das scheint sie erkannt zu haben. Indem sie sich selbst umbrachte, hat sie auch ihn getötet. Ohne ihn konnte sie nicht mehr sein.“
Alex verabschiedete sich und ging. Er hatte noch viel zu tun.
Die Beerdigung fand eine Woche später statt. Lynn und ihre Mutter wurden gemeinsam im Familiengrab am Neustifter Friedhof beigesetzt. Außer Alex waren noch einige Arbeitskollegen und Freunde gekommen. Lynn hatte außer ihrer Mutter keine weiteren Familienangehörigen gehabt. Alex fröstelte, es war ziemlich kalt und es nieselte. Er zog sich den Mantelkragen höher und steckte seine Hände in die Taschen. Um sich ein wenig abzulenken und seine aufsteigenden Tränen zu unterdrücken, sah er sich auf dem Friedhof um und entdeckte einen jungen Mann, der das Begräbnis aus einiger Entfernung halb hinter einem Grabstein verborgen beobachtete und lächelte. Er hatte dunkles, wirres Haar und war ziemlich blass. Er war nicht passend für ein Begräbnis gekleidet, er trug zerrissene Jeans und alte Converse Schuhe.
Alex überlegte, ob es sich um einen Bekannten von Lynn handelte. Plötzlich wusste er, wer da stand. Er setzte sich in Bewegung und ging auf den jungen Mann zu. Als er den Grabstein erreichte, war er verschwunden.
Und es war, als hätte es Lynn und Cedric nie gegeben.
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