Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
die Heil- und Pflegeanstalten umbenannt werden. [44]
Als Hitler die Morde an deutschen Geisteskranken am 24. August 1941 abrupt und für die Organisatoren der Aktion T4 überraschend stoppte, war das ursprünglich aufgestellte Planziel, 70000 Menschen zu töten, um 273 überschritten. So argumentierte auch Viktor Brack in der Begründung, mit der er Anfang 1942 das Kriegsverdienstkreuz für Werner Blankenburg, seinen Stellvertreter, beantragte. Demnach hatte sich Blankenburg »mit der Durchführung eines vom Führer erteilten Auftrages (Geheime Reichssache) befasst« und seine Aufgabe pünktlich erfüllt: »Nur durch seine maßgebende Mitarbeit war es möglich, den kriegswichtigen Sonderauftrag auf so breiter Basis und mit dem befohlenen Tempo zu erledigen und damit zu den entsprechenden kriegswichtigen Ergebnissen zu gelangen.« [45] Die sechs mit Gaskammern und Krematorien ausgestatteten Mordzentren waren:
Ort
Zeitraum des Mordens
Zahl der Ermordeten
Grafeneck (b. Reutlingen)
Jan.–Dez. 1940
9839
Brandenburg an der Havel
Feb.–Sep. 1940
9772
Bernburg an der Saale
Okt. 1940–Aug. 1941
8601
Hadamar, Nordhessen
Jan.–Aug. 1941
10072
Hartheim bei Linz
Mai 1940–Aug. 1941
18269
Sonnenstein bei Pirna
Juni 1940–Aug. 1941
13720
Insgesamt
70273
Die Vergasungsanlagen in Bernburg und in Hartheim blieben über den 1. September 1941 hinaus in Betrieb – dort ließen die Verantwortlichen der Aktion T4 und der KZ-Verwaltung weiterhin, allerdings in vergleichsweise geringer Zahl, arbeitsunfähige oder aus anderen Gründen zum Tode bestimmte KZ-Insassen, Kriminelle und sogenannte Psychopathen umbringen. In der Gaskammer von Hartheim starben zwischen dem 1. September 1941 und dem Dezember 1944 weitere 12000 Menschen, vor allem Häftlinge aus dem nahe gelegenen KZ-Komplex Mauthausen. [46] In Hadamar wurde von 1942 bis 1945 abermals gemordet. In dieser zweiten Phase starben dort mehr als 4500 Menschen infolge von Hunger und tödlichen Gaben bestimmter Arzneigifte. In Pirna-Sonnenstein wurden im zweiten Halbjahr 1941 noch einige Hundert KZ-Insassen ermordet, dann aber die Gaskammer und das Krematorium abgerissen und die Gebäude anderen Zwecken zugeführt. Für Bernburg vermerkte der Hausverwalter am 15. Januar 1943: »Die Arbeit der gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege und damit der gesamten (Vergasungs-) Anstalten ruht seit dem 24. 8. 1941. Seit dieser Zeit sind Desinfektionen nur in ganz geringem Umfange vorgenommen worden. Dies wird auch weiterhin in sehr beschränktem Umfang der Fall sein.« [47] In Bernburg wurden die Tötungsanlagen 1943 abgebaut.
Verlegt, verschwunden, vergessen in Berlin
Die Kranken waren zu zeichnen wie die Schweine
In Augsburg und Hamburg, in Schwerin und Dresden, in München, Wien und Wiesbaden, aber nicht nur dort, fanden bald nach dem Zweiten Weltkrieg große Strafprozesse wegen der Verbrechen an psychisch Kranken statt. Nirgends aber wurde mehr vertuscht als in Berlin, in West und Ost gleichermaßen. Beispielsweise meldete sich im September 1964 eine Frau aus Basel bei der Staatsanwaltschaft Berlin-Moabit. Sie fragte nach den merkwürdigen Umständen, unter denen ihr Onkel im Januar 1945 in den Wittenauer Heilstätten gestorben war. Diese psychiatrische Anstalt liegt im Norden der Stadt. Sie wurde später in Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik umbenannt. Heute ist sie namenlos, weil die Familie Bonhoeffer im Jahr 1988 verlangte, dass ihr Name nicht länger mit dieser Klinik verbunden werde. »Es interessiert mich zu wissen«, schrieb die Anzeigende 1964, »ob in der genannten Heilstätte Euthanasie angewendet wurde.« Der zuständige Ermittlungsbeamte legte zehn Tage nach dieser Anfrage ein Blatt 2 der Akte an, verfügte das Rubrum »Gegen unbekannt wegen Mordes (›Aktion Gnadentod‹)« und schloss die Akte für immer. [71]
Im selben Jahr, am 6. April, hatte ein ehemaliger Patient der Wittenauer Heilstätten ein Ermittlungsverfahren gegen den damaligen Professor der Freien Universität Gerhard Kujath und den in Wittenau noch tätigen Oberarzt Willi Behrendt in Gang gesetzt. Er warf den beiden Ärzten – sehr konkret – die Beteiligung an der Ermordung von Kindern und Erwachsenen vor. Der zuständige Staatsanwalt suchte nicht nach Dokumenten; desinteressiert und verbummelt vernahm er einige tatbeteiligte
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