Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Tod eines Menschen beteiligten Personen den Ausweg zwischen Nicht-Wissen-Wollen und Nicht-Wissen-Müssen offenhalten. Zu diesen Zwecken stand auf den Sterbeurkunden wahlweise: Grippe, Pneumonie, Hirnlähmung, Pneumonie bei Grippe, Erschöpfung, fieberhafte Bronchitis, akute Pneumonie, Lungenentzündung, Herzschwäche bei tobsüchtiger Erregung, Darmgrippe, genuine Epilepsie, progressive Paralyse, Arteriosclerosis cerebri, Pleuritis, Darmkatarrh, Marasmus, Enterokolitis, Darmverschlingung, Gesichtsfurunkel, Marasmus-Paralyse, Blutsturz, Schlaganfall, Altersschwäche, Bauspeicheldrüsenentzündung, Herzmuskelentartung, kruppöse Pneumonie, Herzmuskelschwäche, Angina, Blutvergiftung, Diphterie, Masern, Sepsis nach Masern, Miliartuberkulose der Lunge, Wasserkopf, Erschöpfung nach Anfällen, Tbc, allgemeine Leberschwellung, Entkräftung, Status epilepticus, doppelseitige Pleuritis, Bronchialkatarrh, Durchfall, Herzschwäche.
Die kleine Mordbehörde in der Tiergartenstraße 4
Da das Morden einerseits im Verborgenen und andererseits in strikten bürokratischen Formen und nach halbwegs objektivierbaren Kriterien ablaufen sollte, bedurfte der dazu notwendige Apparat einer Tarnbezeichnung. Die war schnell mit dem Kürzel »Aktion« oder auch »Zentraldienststelle T4« gefunden; letztere Bezeichnung ergab sich aus der Adresse des Dienstsitzes in der Tiergartenstraße 4, oft diente auch einfach diese Anschrift als umschreibender Begriff für das mörderische Ganze. Im Berliner Adressbuch von 1943 steht für diese Liegenschaft lediglich: »E (= Eigentümer): ungenannt«. Im Folgenden verwende ich Aktion T4 oder T4 als kurze Begriffe für die bis 1945 aktive Mordbehörde, auch wenn diese Bezeichnung zur Tatzeit nur ausnahmsweise verwandt wurde. Das Gebäude, eine Stadtvilla der Gründerzeit, war zuvor arisiert worden, wurde später um einige Bürobaracken erweitert und schließlich im Bombenkrieg zerstört. Die wichtigsten Mitarbeiter residierten dort, bis sie Ende 1943 Ausweichquartiere beziehen mussten.
Hinter dem kleinen, effizient arbeitenden Amt verbarg sich ein Konglomerat von Abteilungen und phantasievoll erdachten Briefköpfen, die – je nach Adressat verschieden – im Schriftwechsel mit Kostenträgern, Friedhofsverwaltungen, Angehörigen und Anstalten benutzt wurden. Nach außen firmierte die Aktion T4 als Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten (RAG, Berlin W 9, Postschließfach 262). Die Chefs der Aktion T4, zunächst Werner Heyde, dann sein Stellvertreter Paul Nitsche, benutzten folglich den Briefkopf »Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten, Der Leiter«. Daneben bestand die Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege. Sie war die für die Arbeitsverträge von 300 bis 400 Mitarbeitern, für Kauf- und Pachtverträge wichtige juristische Person des Mordens. Ihre Adresse lautete: Berlin W 35, Tiergartenstraße 4. Die Verlegungen der Patienten in die Mordzentren besorgte die Gemeinnützige Kranken-Transport-GmbH, genannt Gekrat, Berlin W 9, Potsdamer Platz 1. Nach außen hin wurden die Vergasungsanlagen als »Abteilung der Gemeinnützigen Krankentransport GmbH« bezeichnet. [43] Die Gaskammern waren die Endstationen der Transporte. Als letzte entstand 1941 eine dann immer wichtiger werdende Abteilung der Aktion T4, die Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten (ZVST). Unter diesem Briefkopf wurden sämtliche Kosten- und Finanzprobleme, die der Tod eines in Anstaltspflege befindlichen Menschen aufwirft, abgewickelt und – später mehr und mehr – die Kriterien des Mordens von der Kostenseite her bestimmt.
Bis zum Herbst 1941 unterstand die Aktion T4 der Kanzlei des Führers unmittelbar. Vom September 1941 an gewann die neugeschaffene Institution »Der Reichsbeauftragte für die Heil- und Pflegeanstalten« sichtlich an Einfluss. Dahinter verbarg sich die Abteilung IV in der Medizinalverwaltung des Reichsinnenministeriums – zuständig für Gesundheitswesen und Volkspflege. Hatte diese von Herbert Linden geleitete Abteilung bis zum September 1941 vor allem organisatorische Hilfe für die Erfassung der Anstalten und ihrer Pfleglinge geleistet, so verkehrten sich die hierarchischen Verhältnisse danach zunehmend. Vom Herbst 1941 an verlor die Zentraldienststelle T4 ihre aktionistisch-außerinstitutionelle Form und wurde Stück für Stück in den Staatsapparat eingegliedert. Am Ende sollte die halbgeheime Behörde in der Berliner Tiergartenstraße 4 in Reichsamt für
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