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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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nicht gedacht hätte. Es wurde uns so schwer, dass wir alle weinten, und vollends war es mir schwer, als ich M. S. nicht mehr sah … Nun möchte ich Dich bitten, dass Du für mich einstehen würdest, dass ich zu Dir kommen dürfte, denn wir wissen nicht, ob sie die nächste Woche nicht wieder kommen. – Wenn wir je einander nicht wieder sehen würden, so will ich meinen herzlichen Dank aussprechen für alles, was Du an mir getan hast … Mit herzlichen Grüßen
Darüber hinaus berichtete Schlaich, was er gesehen und gehört hatte, als seine Patienten in die grauen Busse verfrachtet wurden:
    Als K. W., eine 19-jährige Schwachsinnige höchsten Grades, merkte, dass sie zum Sammelplatz geführt werden sollte, sprang sie davon. Da erschienen zwei Männer des Transportpersonals und rissen sie, die sich am Treppengeländer und an Türklinken verzweifelt festzuklammern suchte, mit Gewalt fort. Unaufhörlich hallte ihr Weinen und Schreien durch den Hof: »Fräulein Sofie, dableiben, i bei der Fräulein Anna bleiben.« Noch aus dem Wagen, in den die Schergen sie mit spöttischem Lachen hineinwarfen, gellte ihr Rufen: »Fräulein Sofie, Fräulein Sofie, hol mi wieder!« – L. M. wurde unter lautem Schreien von zwei »Pflegern« und zwei »Schwestern« des Transportpersonals in den Omnibus gezerrt. Sie leistete in ihrer Angst solchen Widerstand, dass die vier kaum mit der Fünfzigjährigen fertig werden konnten. Andere waren wie gelähmt und konnten ihrer Todesangst nur mit Schreien Ausdruck geben. Mit weit aufgerissenen, angsterfüllten Augen, blass wie eine Leiche, standen sie da wie E. S., die die Arme in die Höhe schlug und schrie: »Ich will nicht sterben!«
    Manchen gelang es noch im letzten Augenblick, sich aus den Händen der Henker zu reißen. Sie flüchteten und mussten dann doch zu ihrem und unserem Entsetzen merken, dass die keinen mehr losließen, den sie einmal in ihren Krallen hatten. So hatte sich K. D. in wilder Angst noch an der Tür des Omnibusses dem Transportpersonal entwunden und lief in größter Verzweiflung schreiend zum Männerhaus: »I geh net mit, i geh net mit. Lieber häng i mi selber auf.« Aber schon waren ihm zwei Männer des Begleitpersonals nachgelaufen und griffen ihn. Mit auf den Rücken gedrehten Händen wurde er zum Omnibus zurückgeschleppt. E. B., eine stille, verblödete Epileptikerin, die in großer Treue tagaus, tagein dasselbe Treppenhaus blitzblank geputzt hatte, folgte ohne Widerrede der Weisung in den Wagen. Niemand vom Transportpersonal begleitete sie. Da ging sie ruhig am Wagen vorbei und zum Tor wieder in die Anstalt hinein. Als die Pflegerinnen wieder in ihr Haus zurückkamen, stand sie ruhig am Wasserhahn und wusch sich die Nummer ab, die ihr der Transportleiter auf den Handrücken geschrieben hatte. Doch die Freude, dass sie dem Tod entronnen sei, war kurz. Nach einer Viertelstunde kehrte der Transportleiter mit seinen Personenwagen zurück. Er hatte unterwegs gemerkt, dass sie fehlte, und holte sie ab.
    Die meisten unserer Kranken standen fassungslos vor der dämonischen Ungerechtigkeit, in der ihnen jetzt als todeswürdiges Verbrechen angerechnet wurde, was sie als unverschuldetes Kreuz ihr Leben lang getragen hatten: ihre Krankheit, die sie zugleich der Möglichkeit beraubte, sich zur Wehr zu setzen. In diesem jammervollen Gefühl völliger Wehrlosigkeit klagte immer wieder R. W., der mit seinen lahmen Beinen im Selbstfahrerstuhl saß (und überlebte): »Wohin soll ich fliehen, und wer will mich verstecken, wer kann für mich Einsprache einlegen? Bei mir sieht man ja schon von Weitem, dass ich ein unnützer Brotesser bin und zu nichts tauge.« Eines Abends kam eine Epileptikerin, die immer alles wusste, in den Schlafsaal und berichtete: »In zwei Tagen kommen die Omnibusse wieder.« M. G., die im anderen Schlafsaal schon im Bett lag, hörte es; voll Aufregung stand sie auf, lief in ihrer Not zu ihrer Pflegerin und klagte ihr ihre Angst. An dem Tag, an dem sie wirklich mit fort musste, rief ihre Pflegerin sie in ihr Zimmer, um es ihr zu sagen. Da nahm sie ihr das Wort aus dem Mund: »Klara, ich weiß schon, dass ich fortkomme. Deshalb war ich ja so aufgeregt; ich habe so Angst gehabt.« Sie weinte herzzerreißend und bat die Pflegerin, ihr alle Fehler zu verzeihen. Wie sie aber über den Hof geführt wurde, gab sie laut weinend der fassungslosen Empörung über das ihr und ihren Leidensgenossen angetane Unrecht Ausdruck: »Was kann ich dafür, dass ich so

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