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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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durch, wo die Fahrt ins Blaue endete.« Nicht in einer billigeren, weniger kriegsgefährdeten Provinzialanstalt, und wenn, dann nur als vorübergehender Zwischenaufenthalt. Die Kranken mussten, zunächst ahnungslos, später durchaus wissend, im Zuchthaus Brandenburg und anderswo in Gaskammern, getarnt als Duschräume, treten. Nach dem Bericht geschah das so: »Man lässt sie sich auf die Bänke setzen. Eine stellt sich in die Ecke. Eine zieht es vor, sich auf den Boden zu setzen. Die Pflegerinnen winken: ›Ruhig sein, warten‹ und schließen die Tür. Die Kranken sind allein. Eine steht auf, fängt ihren stereotypen Kreisgang an. Eine flüstert und schimpft auf etwas Unsichtbares. Da rauscht es. Es scheint, die Duschen gehen. Eine auf der Bank lässt den Kopf sinken und plumpst, ihrem Kopf nach, dumpf auf die Steinplatten. Die im Kreis gegangen war, blickt auf und sackt in den Knien zusammen. Auf der Bank lehnen sie eine neben der anderen, rutschen, zwei zusammen und einzeln, herunter, fallen übereinander. Die ›Duschen‹ rauschen.«
    Auf den »Friedhöfen kamen bald ganze Serien von Urnen auf einmal an«. Als die Berliner Heil- und Pflegeanstalten dann schon stark geleert waren, erschien ein junger Arzt, »von ›oben‹ geschickt«, der mit den Pflegern noch einmal jeden noch vorhandenen »Fall« durchging mit dem Bemerken: »Wir müssen feststellen, ob diese Kranken durch ihre Arbeit fürs Haus wirklich unentbehrlich sind. Es wäre sonst ungerecht gehandelt zu denen, die wir schon fortgebracht haben.« Fünftausend bis sechstausend Berliner machten dem Bericht zufolge in den Jahren 1940 und 1941 diese Fahrt ins Blaue. Zuletzt, 1945, habe die Zahl der Anstaltspatienten nur noch ein Zehntel des Vorkriegsstandes betragen. »Man hieß auch nicht mehr ›Heil- und Pflegeanstalt‹, sondern ›Krankenhaus‹ und hatte eine Kinderabteilung, eine Station für heilbare Nervenkranke und so weiter.«
    Jedes Detail in diesem kurzen Zeitungsartikel stimmt. Verfasst hatte ihn der Berliner Arzt und Schriftsteller Alfred Döblin, der 1945 als Kulturoffizier in der Uniform der französischen Besatzungsmacht nach Deutschland zurückgekehrt war. Am Ende des Gesprächs trat der Kollege aus alten Tagen näher an Döblin heran und flüsterte: »Ich muss Ihnen noch etwas sagen. Ich habe ja selbst einen Sohn zu Hause, der – schwach ist. Wir haben ihn versteckt und zuletzt bei Freunden untergebracht. Damit er uns nicht genommen wird. Jedesmal, wenn ich solche Listen aufstellte, dachte ich: Ich verurteile mein eigenes Kind zum Tode.« An diese Sätze fügte der Berichterstatter Döblin den Schluss seines Artikels: »Seine Lippen bebten. Ich vermochte nichts zu sagen. Er griff nach meiner Hand.« [73]  

Berichte aus dem Archipel Gaskammer
    Uns wollen sie auf die Seite schaffen
Seit 1930 leitete Ludwig Schlaich die Heil- und Pflegeanstalt Stetten für Schwachsinnige und Epileptiker. Sie liegt nahe Stuttgart, und der evangelische Theologe Schlaich gehörte zu denen, die 1940 gegen das Abholen ihrer Pfleglinge brieflich protestierten, ohne jedoch an die Öffentlichkeit zu gehen. So wurden viele der Stettener Patienten in die Gaskammer deportiert, und Schlaich blieb aus verantwortungsethischen Gründen auf seinem Posten. Bald nach dem Krieg veröffentlichte er eindringliche Berichte über die Geschehnisse in der von ihm geleiteten Anstalt. Die beiden nachstehenden, darin abgedruckten Briefe verfassten Pfleglinge am 10. November 1940, nachdem viele ihrer Anstaltskameraden in die grauen Busse der Gekrat gezwungen worden waren.
    Liebe Eltern und Geschwister! Ich lebe wieder in einer Angst, weil die Autos wieder hier waren … Wenn man nicht aufgeregt wird, dann müsste man Nerven von Stahl und Eisen haben. Ihr könnt Euch freilich nicht in die Lage stellen, wie die Situation ist. Wenn sie aber kommen und nehmen einen am Kragen, ich bin freilich keine Schwache, das ist klar, aber ich würde es nicht glauben, wenn ich’s nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, wie sie einen mitnehmen wollten, wo arbeitet in der Gärtnerei. Das sind keine Vermutungen, das ist alles wahr, was ich berichte, die Regierung will nicht mehr so viele Anstalten, und uns wollen sie auf die Seite schaffen … Es ist genug für heute. Eure Fr.

    Liebe Schwester! Da ja bei uns die Angst und Not immer größer wird, so will ich Dir auch mein Anliegen mitteilen. Gestern sind wieder die Autos da gewesen und vor acht Tagen auch, sie haben wieder viele geholt, wo man

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