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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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schätze, dass es etwa eine Stunde gedauert hat. Nach etwa einer Stunde kam ein Wärter, ich musste meinen Rücken frei machen und der Wärter entfernte die Nummer auf meinem Rücken. Dann wurde ich von einer Wärterin in einen kleinen Raum, in welchem vier Betten standen, geführt. Auch hier musste ich wieder längere Zeit warten. Dann wurde ich in einem Personenwagen wieder nach Zwiefalten zurückgebracht. Von all den anderen Bekannten, die mit mir nach Grafeneck gekommen waren, habe ich in Zwiefalten niemand mehr gesehen, und ich muss annehmen, dass ich die einzige Überlebende von dem ganzen Transport bin.
    (…) Von dem Warteraum, in welchem ich mich so lange aufhielt, hatte die Bretterwand zum Nachbarzimmer breite Ritzen. Ich konnte durch diese feststellen, dass in dem großen Nachbarraum eine große Anzahl völlig nackter Frauen sich befand. [112]  

Ich komme nicht hinter die Eisentür
Die damals knapp neunjährige Elvira Hempel durfte ebenfalls vor der Gaskammer umkehren, während ihre Schwester sterben musste. In ihren Lebenserinnerungen berichtete sie 1994 über den 3. September 1940, den Tag ihrer Verlegung aus der Anstalt Uchtspringe bei Stendal zur Gaskammer in Brandenburg:
    Ich kriege einen Beutel, mache ihn auf und sehe mein schönes Blumenkleid da drin. Ich gucke das Blumenkleid an. Das Kleid passt nicht mehr. Ich gehe zur Schwester und sage: »Das Kleid passt nicht mehr.« Sie greift in den Schrank und gibt mir ein anderes. Ein grundhässliches Kleid – ein rotes Kleid mit einem roten gehäkelten Kragen. Es kommt mir vor, als wenn es der Kragen vom Kaspar wär. Das Kleid gefällt mir gar nicht. Es hat viele, viele Knöpfe. Ich würde es am liebsten nicht anziehen. Aber wenn ich es nicht anziehe, dann gibt es erst einmal Prügel, und hinterher muss ich es doch anziehen.
    Wir gehen alle raus – das ganze Heim – mit einer Schwester. Wir waren ja nur noch acht oder neun Mädchen. Sie bringt uns in ein anderes Haus. Da ist ein großer Saal, in dem schon viele Frauen und auch Kinder drin sind. Am oberen Ende ist eine Bühne. Auf der Bühne steht ein Tisch mit vielen Akten. Auf dem Boden liegen auch Berge von Akten. Und wir sitzen da unten drin wie sonst das Publikum. Plötzlich öffnet sich die Tür, und es heißt: »Alles raus!« Vor der Tür halten vier Busse. Wir müssen einsteigen, und die Busse setzen sich in Bewegung. In meinem Bus sind nur Kinder, und jedes Kind hat einen Platz. Die Fenster sind von innen blau angestrichen, damit niemand raus- und reingucken kann. Ich hab mir mit dem Fingernagel ein kleines Loch in den Anstrich gekratzt und kann etwas sehen. Straßenbäume und auch Häuser huschen an meinen Augen vorbei. Der Bus fährt eine Weile. Dann hält er an.
    Wir müssen aussteigen. Wir gehen in ein Gebäude mit einem kleinen Gang. Hinter dem Gang öffnet sich eine Tür, dahinter ist ein Raum. Es brennt Licht, obwohl es Tag ist. Ich sehe aber auch keine Fenster. In diesem Raum liegen ein Berg Kleider und ein Berg Schuhe. Hinten, schräg in einer Ecke, steht ein Tisch. An diesem Tisch sitzen Leute in weißen Kitteln. Es waren ca. vier, es können auch acht gewesen sein. Aber immer sitzen sich zwei gegenüber. Eine schwere Eisentür mit zwei Riegeln, wie im Luftschutzkeller, gibt es da auch noch. Eine Frau sagt ganz barsch: »Ausziehen! Und ein bisschen Beeilung dabei.« Sie hilft den Kindern beim Ausziehen. Es soll schnell gehen. Und jedes Kind, wenn es ausgezogen ist, wird vor diesen Tisch gestellt, an dem die Leute in Weiß sitzen. Dann wird es wieder genommen und verschwindet hinter dieser Eisentür. Nach jedem Kind wird wieder verriegelt.
    Ich bin beim Hereinkommen weit in den Raum geschoben worden. Ich stehe fast hinter diesen beiden Bergen, dicht am Tisch. Der Raum ist leer, alle Kinder sind weg. Und ich stehe immer noch vor diesen Bergen, die immer größer werden, und ich gucke wie gebannt auf diese Berge. Ich werde angeschnauzt, dass ich mich schneller ausziehen sollte. Ich habe ein hässliches rotes Kleid an mit vielen Knöpfen. Die öffne ich sehr langsam und werfe das Kleid auf diesen Berg. Ich merke, dass ich von hinten beobachtet werde, von den Leuten, die an dem Tisch sitzen. Ich ziehe meine Schuhe aus und werfe sie auf den Schuhberg. Als ich nackt ausgezogen bin, werde ich am linken Arm gepackt und an den Tisch gezerrt. Dort fragt man mich nach Namen und Alter. Ich antworte. Der Mann blättert kurz in einer Akte. Dann darf ich mich wieder anziehen. Ich komme nicht

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