Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Mutter von Rolf zwangsweise sterilisieren zu lassen, allerdings lehnte das Erbgesundheitsgericht Potsdam den Antrag ab, ebenso das Erbgesundheitsobergericht in Berlin. Im Entwicklungsbericht vom 15. Oktober 1940, der bereits im Hinblick auf den geplanten Mord verfasst wurde, heißt es: »Rolf ist jetzt in der Lage, einzelne Worte schlecht artikuliert, mit leiser tonloser Stimme herauszuhauchen. Seine seltenen Äußerungen sind sinnvoll, sie beziehen sich auf primitive Vorgänge, seine eigene Person betreffend. Kleine Vorgänge in seiner Umgebung hat er aufgefasst, Neues aber nicht dazugelernt. Charakterlich stehen die guten, gemütlichen Fähigkeiten Rolfs im Vordergrund. Er ist anhänglich, freudefähig, dankbar. Rolf ist empfindlich und will gern beachtet sein. Seine Stimmungslage ist sorglos-unbekümmert, kindlich heiter.« [195] Im Kapitel »Aus den Akten der ermordeten Kinder« berichte ich aus den Krankenakten von sieben weiteren Jungen und Mädchen, die am 28. Oktober 1940 in der Gaskammer von Brandenburg sterben mussten: Irmgard Dörr, Willi Venz, Bertha Handrich, Hellmut Lesniewski, Renate Wringe, Margarete Korioth und Günter Dietrich.
Die Ermordeten waren keine »geistig Toten« – Begriffe, die später von den Mördern als Ausreden benutzt wurden –, sondern Kinder und Jugendliche, die teilweise die Hilfsschule der Anstalt Brandenburg-Görden besucht hatten. Sie starben, weil sie »schwachsinnig«, also durchaus ausdrucksfähig und in unterschiedlichem Maß geistig zurückgeblieben waren oder an epileptischen Anfällen litten. Solche leichteren Formen geistiger Entwicklungsstörungen sollten anhand des auf mörderischen Wegen gewonnenen »Materials« und im Rahmen eines methodisch fundierten wissenschaftlichen Projekts erforscht werden. Als Objekte der Wissenschaft wurden die Kinder und Jugendlichen vor ihrem schon geplanten Tod noch einmal gründlich klinisch und psychologisch untersucht. Ärzte punktierten ihr Rückenmark, füllten ihre Hirnkammern mit Luft und spritzten Kontrastmittel in die Halsschlagader, um möglichst perfekte Röntgenaufnahmen zu erzielen; Psychologen veranstalteten Tests, ermittelten den Intelligenzquotienten, Laborantinnen untersuchten Blut und Stoffwechsel. Alle kannten das Ziel, brachten gemeinsam die Krankendokumentation in Ordnung und veranlassten, dass die so Untersuchten am Ende gemeinsam in die nahegelegene Gaskammer überstellt wurden.
Hallervorden erforschte damals die Ursachen des angeborenen Schwachsinns und den Unterschied zwischen traumatischer und sogenannter genuiner, in der damaligen Terminologie meist erblicher, Epilepsie. Hinzu kam das besondere Interessengebiet Heinzes: der abnorme Charakter. Für alle drei Forschungsgebiete sollte anhand hirnanatomischer Untersuchungen herausgefunden werden, ob sich zu den äußerlich sichtbaren Abweichungen von der Norm jeweils regelhaft auftretende Defekte am Gehirn mikro- oder auch schon makroskopisch nachweisen ließen.
Der am 28. Oktober 1940 für die Gaskammer des Zuchthauses Brandenburg zuständige »Vollzugsarzt« war Heinrich Bunke. Vor dem Vernehmungsrichter erläuterte er 22 Jahre später die Hintergründe des wissenschaftlich motivierten Massakers: »In Brandenburg wurden auch Kinder im Alter von etwa acht bis zwölf, es kann auch bis 14 Jahre gewesen sein, vergast. Es handelt sich um Kinder, die uns von Professor Heinze aus Görden – entweder direkt oder über eine Zwischenanstalt, genau weiß ich das nicht mehr – eigens zur Tötung überstellt wurden. Es dürfte sich in der Zeit meiner Tätigkeit in Brandenburg um etwa 100 Kinder gehandelt haben. (…) In den Fällen der Kinder waren genaue Durchuntersuchungen und Zusammenfassungen der Krankengeschichte der Krankenakte beigefügt.« Im weiteren Gang seiner Aussage klammerte Bunke die von ihm vollzogenen Morde aus und schilderte, was mit den Toten anschließend geschah: »Ein Teil der Kinderleichen wurde von Professor Hallervorden aus Berlin (Histologe am Kaiser-Wilhelm-Institut) seziert und zur wissenschaftlichen Auswertung mitgenommen. Ich nehme an, dass dies aufgrund einer Vereinbarung mit Professor Heinze geschah.« [196]
Hallervorden war damals selbst in Brandenburg. Bunke lernte ihn bei dieser Gelegenheit näher kennen und nahm im Frühsommer 1941 an einem vier Wochen dauernden Sektionskurs am Institut für Hirnforschung in Berlin-Buch teil, um anschließend in der Vergasungsanstalt Bernburg die Gehirne vergaster Patienten zu
Weitere Kostenlose Bücher