Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
sich, weil er dem des älteren Bruders relativ ähnlich war, keine wichtigen Anhaltspunkte für den Krankheitsverlauf. Die fanden sich erst, nachdem der jüngste Bruder geboren und im Alter von 15 Monaten ermordet worden war: »Wesentlich aufschlussreicher sind die Präparate des jüngsten Bruders, Herbert K. Ein Gefrierschnitt nach Spielmeyer durch die Stammganglien lässt die Markzüge deutlich, wenn auch abgeschwächt hervortreten …« Die Akten dieser drei Brüder trugen 1983 Spuren aktueller wissenschaftlicher Benutzung: Das Institut hatte die Akten und Präparate schon 1954 zur Forschung weitergegeben, zuletzt hatte sie 1979 Professor Hasuda aus Japan benutzt. [201]
Vertreten von Professor Adolf Butenandt, ließ die Max-Planck-Gesellschaft noch 1973 einem Münchner Journalisten erfolgreich die Behauptung verbieten, Institute der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft hätten im Rahmen der Euthanasie Hirnforschung betrieben. Die Gesellschaft ließ erklären, sie fühle sich durch eine derartige Nachrede »beleidigt«. [202]
Julius Hallervorden nutzte seine Chance als Forscher und trug dazu bei, dem Mord an Zehntausenden Menschen einen wissenschaftlichen Sinn zu verleihen. Er zerstörte moralische Maßstäbe und untergrub rechtliche Normen, weil er mit allen Mitteln nach wissenschaftlicher Erkenntnis strebte und die Ursachen bestimmter krankhafter Zustände klären wollte. Derart enthemmte, gewissenlose Gelehrte arbeiteten damals an vielen deutschen Universitäten, Kliniken und Forschungsinstituten. Sie erzeugten ein eigentümliches Klima moralischer Indifferenz. In seinem 1961 erschienenen Buch »Die Deutschen und ich« beschrieb der britische Journalist Sefton Delmer, wie er im September 1946 von einem alten Wärter in einen Keller der Berliner Charité in »säuerlich riechendem Halbdunkel« zu zwei mächtigen Holzbottichen geleitet wurde, beide gefüllt mit Menschenköpfen aus der Hinrichtungsstätte Plötzensee. »Jawohl«, sagte sein Begleiter, »obwohl Hitler und Himmler längst tot sind, ihr Drittes Reich nur noch eine hässliche Erinnerung ist, betreiben die Studenten und ihre Professoren weiterhin eine so typisch nationalsozialistische Verwertung des Wertlosen. Und das mit den Überresten von Menschen, die man eigentlich als Helden und Märtyrer hätte ansehen müssen.« Niemand außer diesem Mann, einem alten Sozialdemokraten, hatte bislang daran Anstoß genommen. [203]
Die Spitzen der einstigen Kaiser-Wilhelm- und späteren Max-Planck-Gesellschaft brauchten 45 Jahre, bis sie sich nach ersten Veröffentlichungen in Deutschland, gefolgt von schließlich zwingendem internationalem, namentlich nordamerikanischem Druck endlich im Jahr 1990 zu einer späten Reaktion bequemten. Sie verlagerten die schriftlichen Unterlagen der Sammlungen Hallervorden und Spatz ins historische Archiv der Gesellschaft und ließen die Präparate auf dem Münchner Waldfriedhof beisetzen.
Euthanasie im Alltag einer Kinderklinik
»Das Kind eignet sich zur Behandlung durchaus«
Ohne jeden Zwang errichtete der Senat der Freien und Hansestadt Hamburg im Januar 1941 zwei Abteilungen, in denen behinderte Kinder ermordet werden sollten: zum einen in der städtischen Heil- und Pflegeanstalt Langenhorn, zum anderen in der privaten Kinderklinik Rothenburgsort. Hier wie dort versuchten Ärzte, von Eltern in indirekter Weise zu erfahren, ob sie sich mit dem Tod ihres Kindes abfinden würden, diesen auf keinen Fall wollten oder sogar wünschten. Allerdings wurden von Langenhorn aus behinderte Kinder auch in andere Tötungs- und Beobachtungsabteilungen des Reichsausschusses deportiert, und dies offenbar ohne das Einverständnis der Eltern. Relativ nahe bei Hamburg lagen die Kinderfachabteilungen in Schleswig-Stadtfeld, Lüneburg, Schwerin, Uchtspringe bei Stendal und Blankenburg im Harz.
In Langenhorn begutachtete und tötete der Psychiater Hermann Knigge, ein Schüler von Max Nonne und Oswald Bumke. Im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort verantwortete Chefarzt Wilhelm Bayer die Gabe tödlicher Spritzen. Gerichtlich erwiesen ist der gewaltsame Tod von mindestens 56 Kindern in Rothenburgsort und zwölf in Langenhorn. In der Gesundheitsverwaltung begleiteten Gesundheitssenator Ofterdinger und dessen wichtigster Zuarbeiter, Senatsdirektor Kurt Struve, das Morden mit Wohlwollen. Zudem besuchte der leitende Amtsarzt Hamburgs, Professor Hermann Sieveking, regelmäßig sogenannte Reichsausschusskinder, die Knigge und Bayer nach Berlin zur
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