Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)
Verstorbenen liegen«, dass deren gewaltsamer Tod und die ohne ihre Einwilligung erfolgte wissenschaftliche Verwertung eines ihrer Organe aufgeklärt werde. Mit solchen Briefen musste man sich zu Beginn der 1980er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland noch vielerorts beschäftigen.
Herr Kalb von der Max-Planck-Gesellschaft redete vom Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient auch dann, wenn der Arzt zum Mörder geworden war, auch dann, wenn Wissenschaftler wie Hallervorden und Spatz, die nach 1949 von der Max-Planck-Gesellschaft weiterbeschäftigt und geehrt wurden, zum Zweck ihrer Forschung Menschen hatten ermorden lassen. Nach weiterem Hin und Her lenkte der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften ein. Den Ausschlag gab eine Intervention des örtlich zuständigen damaligen Hessischen Datenschutzbeauftragten Spiros Simitis. An ihn hatte ich mich gewandt, und der drohte der Max-Planck-Gesellschaft: Wenn sie keine historische Forschung an ihren wissenschaftlichen Sammlungen zuließe, dann entfalle auch die Rechtsgrundlage für die naturwissenschaftliche Nutzung, schließlich seien wissenschaftlich begründete Fragen unterschiedlicher Disziplinen juristisch gleichrangig.
Mitte 1984 konnte ich die mich interessierenden schriftlichen Teile der Sammlung Hallervorden durchsehen. Die Akten waren zum Teil später gesäubert und die interessanteren verborgen worden, und zwar hinter Holzverschalungen im Flur, die ich abschrauben musste. Wolf Singer, damals erst seit kurzem Direktor der Abteilung Neurophysiologie des Max-Planck-Instituts, stöhnte: »Man weiß gar nicht, was man alles im Keller hat.« Kaum hatte ich die Akten in der Hand, stieß ich auf Hunderte von Schriftstücken, die durch ihre Nummerierung, die Art der Sektion, Todesort und Todesdatum, ohne Weiteres Opfern der einschlägigen Mordaktionen zuzuordnen waren. Ferner sah ich eine Sammlung mit Gehirnpräparaten von Selbstmördern bei der Luftwaffe, zusammengestellt von Hallervordens Chef Hugo Spatz. »Abnorm, die Hirnwindungen dieser Feiglinge!«, das mag die Arbeitshypothese gewesen sein, anhand der Spatz die Gehirne dieser am Krieg verzweifelten Soldaten untersuchen wollte.
In dem Ordner »Sektionen 1941, 1–60« fand ich eine größere Anzahl von Epikrisen, kurz gefassten Krankengeschichten, ermordeter Kinder und Jugendlicher aus der Anstalt Brandenburg-Görden, die allesamt am 28. Oktober 1940 gestorben waren. Obduzent war der eigens angereiste Julius Hallervorden. Zunächst seien die Namen und Geburtsdaten dieser Mädchen und Jungen genannt:
Anneliese Rotzoll, *13. 4. 1926 in Dabe
Werner Zimmermann, *6. 12. 1923 in Branitz
Günter Dietrich, *29. 7. 1929 in Eberswalde
Heinz Böhm, *29. 6. 1927 in Berlin
Heinz Piescher, »zehn Jahre alt« [194]
Hubert (oder Herbert) Falkenberg, *11. 9. 1931 in Kagel
Irmgard Dörr, *27. 1. 1924 in Berlin
Willi Venz, *19. 4. 1924 in Potsdam
Günter Schiemann, *30. 5. 1928 in Neuzelle
Ursula Krabbe, *7. 3. 1924 in Berlin
Wolfgang Fengler, *1. 1. 1930 in Frankfurt/O.
Dora Zech, *6. 7. 1924 in Forst
Elisabeth Jarosch, *9. 11. 1925
Marie Kretschmer, *27. 1. 1922
Werner Przadka, *24. 8. 1927
Willi (Wilhelm) Schemel, *24. 10. 1924 in Belzig
Margarete Korioth, *21. 6. 1927 in Rendsburg
Henry Herzog, *1. 1. 1923 in Berlin
Erika Höhne, *26. 6. 1928 in Berlin-Neukölln
Bertha Handrich, *17. 10. 1930 in Berlin
Herbert Schade, *15. 5. 1922 in Berlin-Neukölln
Willi Bading, *2. 6. 1924 in Kleinkreuz
Horst Friedrich, *25. 1. 1931 in Nowawes
Renate Wringe, *2. 3. 1923 in Treuenbrietzen
Hellmut Lesniewski, *13. 8. 1929
Vera Böhlke, *19. 9. 1926 in Berlin
Werner Böttger, *15. 2. 1925 in Potsdam
Günther Nitschke, *18. 9. 1933 in Berlin-Neukölln
Hans Löskow, *28. 8. 1928 in Augustfelde
Inge Harbrecht, *9. 9. 1933 in Chemnitz
Siegfried Gaida, *12. 9. 1931 in Buchholz, Kr. Lebus
Rolf Otto Pfunfke, *12. 7. 1928 in Brielow
Siegfried Pfunfke, (?)
Hildegard Eckert, *27. 11. 1923
Emmy (Emma) Kunz, *12. 5. 1923 in Silberberg, Kr. Beskow-Storkow
Von einigen der ermordeten Kinder und Jugendlichen haben sich die Krankenakten erhalten, zum Beispiel von Rolf Pfunfke. Er litt an einer spastischen Paraplegie der Beine und an athetotischen Bewegungsstörungen, die auch seine Zunge beeinträchtigten; die Eltern gaben ihren Sohn im September 1932 in die Anstalt. 1935 versuchte der Amtsarzt von Brandenburg, die
Weitere Kostenlose Bücher