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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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entnehmen, von denen er annahm, »dass sie in Buch von Interesse seien«. Während seiner kurzen Anlernzeit wohnte er im Haus des Direktors Hugo Spatz. In den Unterlagen über die Sektionen während der Jahre 1940 und 1941 finden sich in großer Zahl gleichförmig aufgebaute Beschreibungen von Gehirnentnahmen, die auf die Tötungsanstalten Brandenburg und Bernburg hinweisen. Die kurz gehaltenen Befundbogen sind fast alle mit derselben Schreibmaschine geschrieben, haben oben links eine Be Nr. und oben rechts eine Z Nr. Diese Nummern lassen auf den gewaltsamen Tod im Rahmen der Aktion T4 schließen. Die Z Nr. war die zentrale Nummer, unter der alle an die T4 gemeldeten Patienten erfasst wurden. Die Be Nr. war eine laufende Nummer zur Beurkundung des Todes. [197]   In den Sektionsprotokollen ist der Todestag meistens nicht angegeben, jedoch die Zeitspanne zwischen Tod und Sektion vermerkt. Sie betrug maximal vier Stunden, zumeist deutlich weniger. Den beigefügten kurzen Text diktierte Bunke, anschließend schickte er die entnommenen Gehirne nach Berlin-Buch.
    Als Beispiel soll hier der Bericht wiedergegeben werden, den ich 1984 als ersten las: »Be Nr. 23 828, Z Nr. 55 150; Name: Kothe, Arthur, geb. 11. 6. 1912 in Berlin; Sektion nach 2 Stunden; Diagnose: Schwachsinn; Größe: 1,52 m; Körperbau: schlank; Knochenbau: fein; Kopfumfang: 55 cm, Längsdurchmesser: 17,5 cm, Querdurchmesser: 14 cm; Gehirngewicht: –; Präparat: Gehirn; Makroskopischer Befund: Auffallend kleines und weiches Gehirn. Die weichen Häute ohne Befund. Die linke Hemisphäre stärker ausgebildet als die rechte. Im Bereich des rechten Parietalhirns finden sich Veränderungen im Windungsbau, die an Mikrogyrie erinnern. An der Basis und am Kleinhirn makroskopisch keine Besonderheiten. Beim Herauslösen riss der rechte Pedunculus cerebri ab und der linke ein. Kurze Anamnese: Familienanamnese nicht zu erheben. Patient wurde 1929 in Anstaltspflege gegeben. Wird als völlig stumpfer Idiot geschildert, der weder auf Bedrohung noch auf laute Geräusche reagiert. Sprachliche Äußerungen wurden nicht von ihm vernommen. Stößt nur zeitweilig tierische Laute aus. Linksseitig spastisch gelähmt. Starker Rigor der Muskulatur des linken Armes. Leichter Rigor des linken Beines. Sehnenreflexe sind beiderseitig gesteigert. Patient soll eine Kinderlähmung überstanden haben, nach der sich die linksseitige Lähmungserscheinung zeigte.« [198]  
    Arthur Kothe wurde am 7. Mai 1941 von Berlin-Wittenau »nach der Landesanstalt Neuruppin entlassen«, wie es in der Krankenakte heißt, sprich: in Richtung Tod geschickt und am 22. Juli von Neuruppin »in eine andere Anstalt verlegt«, nämlich nach Bernburg, wo er am selben Tag in der Gaskammer starb. [199]   1944 bestätigte Hallervorden die Übernahme von einigen Hundert Gehirnen mit Hilfe der Aktion T4. Er unterschrieb diesen Brief an Paul Nitsche nicht etwa mit »Heil Hitler«, sondern »mit den besten Grüßen«. Darin heißt es: »Insgesamt habe ich 697 Gehirne erhalten, einschließlich derer, die ich einmal in Brandenburg selbst herausgenommen habe. Auch die aus Dösen sind mit einberechnet. Ein erheblicher Teil davon ist bereits untersucht, ob ich sie freilich alle histologisch genauer untersuchen werde, steht dahin.« [200]  
    Hinter den vielen von Hallervorden gesammelten Präparaten standen lebendige Menschen, die auf Anforderung ermordet wurden, um Forschern eine ausreichende Datenbasis zu sichern. Von den vielen greife ich die drei Brüder K. heraus. Alfred K. starb am 6. Februar 1942 im Alter von sieben Jahren an einem »fieberhaften und grippalen Infekt«; zwölf Tage später starb sein dreijähriger Bruder Günther an »Bronchopneumonie«. Zu diesem Zeitpunkt war der dritte Bruder, Herbert, noch nicht geboren. Er starb im Alter von 15 Monaten am 25. April 1944 an einer »Herdpneumonie im rechten Unterlappen«. Alle drei Brüder litten an derselben, offensichtlich erblichen Krankheit. Diese Krankheit besteht in Zerfallserscheinungen von Markfasern und führt über mehrere Jahre zum Tod eines Kindes. Es mag sein, dass der älteste Bruder K. eines natürlichen Todes gestorben ist, jedenfalls dem Tod schon nahe war. Die Obduktion ergab, dass die Krankheit bei ihm sehr weit fortgeschritten war. Für seinen vier Jahre jüngeren, gewiss ermordeten Bruder heißt es im Untersuchungsbericht: »Die Entmarkung ist noch nicht ganz so weit fortgeschritten.« Aus diesem Vergleichsbefund ergaben

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