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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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Untersuchung von Kranken mit Störungen der unwillkürlichen Motorik diente.« [191]   Soeken selbst berichtete Ende 1942 Oskar Vogt, dem Amtsvorgänger von Spatz: »An Kranken wird es mir nicht fehlen, da der Reichsausschuss für die wissenschaftliche Erforschung schwerer erblicher Leiden mich zur Mitarbeit aufgefordert hat und mir Fälle zuweist. Ich habe vorgeschlagen, mir in erster Linie neurologische Erkrankungen zuzuweisen, und hoffe so, trotz Krieg, meine Arbeiten weiter fördern zu können.« [192]  
    Besonders intensiv beteiligte sich Hallervorden an dieser Art von Wissenschaft. Er sammelte Hunderte Gehirne ermordeter Kranker, speziell von Kindern. Auch bestellte er sich die Gehirne noch lebender Menschen, sofern diese sein Erkenntnisinteresse erregten. Im Juli 1945 zeigte er Leo Alexander, einem fachkundigen Untersuchungsoffizier der US-Streitkräfte, im hessischen Dillenburg seine beeindruckende Sammlung. Auf Befehl des Führers war diese 1944 wegen ihres wissenschaftlichen Werts dorthin ausgelagert worden, und Hallervorden freute sich über den Besuch, schließlich stammte Alexander aus Frankfurt am Main, war 1933 emigriert und hatte zuvor am KWI für Hirnforschung einen Teil seiner Ausbildung erfahren. Frei von Skrupeln, locker, gelöst und nicht ohne Stolz erzählte Hallervorden, wie er zu seiner schönen Kollektion gekommen sei und wie sich die Zusammenarbeit mit den Euthanasiemördern gestaltet habe. Alexander stellte fest, dass die Initiative zur Zusammenarbeit von Hallervorden ausgegangen sei, und protokollierte dessen Aussage wörtlich:
    »Ich habe so was gehört, dass das gemacht werden soll, und dann bin ich zu denen hingegangen und habe ihnen gesagt: ›Na Menschenskind, wenn ihr nu’ die alle umbringt, da nehmt doch wenigstens mal die Gehirne heraus, sodass das Material verwertet wird.‹ Sie fragten denn: ›Wie viele können Sie untersuchen?‹ Da sagte ich ihnen: ›Eine unbegrenzte Menge, je mehr, desto lieber.‹ Da stellte ich ihnen dann Fixiermittel und die Kisten zur Verfügung, und so haben sie sie uns reingebracht wie ’nen Möbeltransport. Das war ja nun ganz toll. Ich nahm sie an, die Gehirne; wo die nur herkamen, ging ja mich nichts an. Da waren schöne schwachsinnige Missbildungen und frühkindliche Erkrankungen.« [193]   Wider besseres Wissen täuschte Hallervorden in der von ihm als kollegiales Gespräch missverstandenen Vernehmung den passiven Sammler vor.

    Nach einigen Jahren wanderte die Sammlung in das neugegründete Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Gießen, das später nach Frankfurt verlegt wurde. Hallervorden, Spatz und andere arbeiteten jedenfalls zum Teil an ihren Projekten aus der NS-Zeit weiter, nunmehr als wissenschaftliche Mitarbeiter der Max-Planck-Gesellschaft. Nach Hallervordens Tod im Jahr 1965 lieh das Max-Planck-Institut die Sammlung an das im Parterre desselben Gebäudes gelegene Edinger-Institut der Universität Frankfurt aus, zu Anfang der 1970er-Jahre ließen die Hirnforscher der nächsten Generation feuersichere Schränke anschaffen, damit die 150000 Hirnschnitte und 3000 Makropräparate, die das Lebenswerk Hallervordens und Spatz’ bildeten, nicht zu Schaden kämen.
    Als ich die Sammlung im Jahr 1983 sehen wollte, antwortete mir der damalige Direktor, man habe »von Herrn Professor Hallervorden weder Gehirne und Präparate noch Schriftstücke übernommen, die mit der ›Euthanasie‹-Aktion in Zusammenhang stehen«. Ich schrieb einen zweiten Brief, beharrte auf meiner Behauptung und reichte zusätzliche Beweise nach. Diesmal antwortete die Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft in München, Rechtsreferat, »mit freundlichen Grüßen, Kalb«: Eine Einsichtnahme könne »aufgrund des Paragraphen 203 Strafgesetzbuch« nicht gewährt werden. Der Paragraph handelt von der Schweigepflicht verschiedener Berufsstände; im Fall der Ärzte bildet das besondere Vertrauensverhältnis zwischen dem Patienten und seinem behandelnden Arzt die Grundlage. Auch das als Hilfskonstruktion für forschende Ärzte gern benutzte »mutmaßliche Einverständnis der Verstorbenen« liege nicht vor, erläuterte mir Herr Kalb, »gerade auch unter Berücksichtigung Ihres konkreten wissenschaftlichen Interesses«. Die Herren von der Generalverwaltung der Max-Planck-Gesellschaft bestritten also nicht mehr lauthals, dass sie in einem ihrer Institute Gehirne und Gehirnpräparate von Ermordeten verwahrten, aber sie behaupteten, es könne nicht im Interesse »der

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