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Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition)

Titel: Die Belasteten: ›Euthanasie‹ 1939-1945. Eine Gesellschaftsgeschichte (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Götz Aly
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Tötung meldeten, und überzeugte sich persönlich von der Richtigkeit der vorgesehenen tödlichen Maßnahme. Die beschönigende, aber eindeutige ärztliche Formel dafür lautete: »Das Kind XY eignet sich für eine Behandlung durchaus.« Zudem informierten Ofterdinger, Struve und Sieveking alle Hamburger Amtsärzte während einer gemeinsamen Sitzung über das Reichsausschussverfahren. Vor der Eröffnung der Hamburger Kinderfachabteilungen fuhren die künftigen Leiter Knigge und Bayer im Dezember 1940 nach Berlin und ließen sich von den Mitarbeitern des Reichsausschusses instruieren.
    Wilhelm Bayer (1900–1972) war von 1932 bis 1934 Assistent an der Eppendorfer Kinderklinik und von 1934 an Chefarzt des Kinderkrankenhauses Rothenburgsort. Er hatte die Klinik in einem heruntergekommenen Zustand übernommen und brachte sie wieder zu Ansehen. Unter seiner Leitung stieg die Bettenzahl bald von 210 auf gut 450. Das Haus erlebte eine Blütezeit. Bayer richtete im Arbeiterbezirk Hammerbrook eine Beratungsstelle für werdende Mütter ein, setzte den Neubau ganzer Krankenhausabteilungen durch und etablierte einen Ausbildungsgang für Kinderkrankenschwestern. Im Krieg erfocht er Butterzulagen für Schwangere. Mit Recht konnte er 1945 den ermittelnden Beamten erklären: »Meine ganze Kraft galt während der elf Jahre der Gesunderhaltung unseres Nachwuchses.« Bayer sprach von »Gesunderhaltung«. Der Begriff ließ offen, wie er mit Kindern verfahren war, die er als dauerhaft geschädigt eingestuft hatte.
    Während Bayer im Auftrag des Reichsausschusses mordete, versuchte er sich zu habilitieren. Der Berliner Psychiater Max de Crinis setzte sich nachdrücklich für ihn ein und wies darauf hin, wie sehr »die Reichsgesundheitsführung an ihm interessiert« sei. Doch scheiterte diese Fürsprache in Hamburg an dem konservativen Gegner des Nationalsozialismus Professor Rudolf Degkwitz. Zwar bekleidete de Crinis viele einflussreiche Ämter, unter anderem das des Referenten für Medizin im Reichsministerium für Wissenschaft und Unterricht, dennoch konnte er gegen die Medizinische Fakultät der Universität Hamburg nichts ausrichten. [204]  
    Nach dem Krieg veröffentlichte Bayer den Leitfaden »Das erste Lebensjahr unseres Säuglings«. [205]   Das Buch erreichte eine Auflage von mehr als 100000 Exemplaren. Auffallend ist, dass auch mehrere andere Ärzte des Reichsausschusses solche Ratgeber herausbrachten. Behinderungen kommen in diesen Büchern nicht vor. Die Autoren lobten die Muttermilch und verdammten Fertignahrung, sie förderten die freie, möglichst ungestörte Entwicklung des Kindes und wiesen ehrgeizige, vom Förderzwang befallene Eltern in die Schranken. Im Übrigen plädierten die an Euthanasiemorden beteiligten Ärzte für Wollunterhemden, Ruhe und Sonne. Verfasst wurden solche Ratgeber von Autoren, die behinderte Kinder umbrachten, weil diese im Intelligenztest unter einer bestimmten Punktezahl geblieben waren, an Down-Syndrom oder spastischer Lähmung litten.

    Die Organisatoren des Reichsausschusses und die leitenden Beamten der städtischen Gesundheitsbehörde hatten den schon erwähnten Professor für Kinderheilkunde, Rudolf Degkwitz, bewusst umgangen. So erfuhr er erst Ende 1942 von den Morden an behinderten Kindern, und zwar von Eltern, deren Kind schon zweimal wegen seines Wasserkopfes operiert worden war. Diese berichteten ihm, ihr Sohn sei vom Amtsarzt in das Kinderkrankenhaus Rothenburgsort eingewiesen worden, weil dort die Möglichkeit bestehe, »solche Kinder mit besonderen Erfolgsaussichten zu behandeln«. Die Eltern durchschauten das Lügengespinst und kommentierten entrüstet, »man wisse ja, was dort mit den Kindern geschehe«. Nach dem Gespräch rief Degkwitz den zuständigen Amtsarzt Fritz Janik in Hamburg-Harburg an, fragte eindringlich, was los sei. Über das Telefonat gab er im Juni 1945 zu Protokoll: »Dr. Janik erklärte, mir das nicht am Telefon sagen zu können, und riet mir, Senator Ofterdinger anzurufen, der es mir aber auch nicht am Telefon sagen könne, und meinte, ich müsste doch wissen, worum es sich handele. Ich habe dann persönlich Informationen eingezogen und hörte, dass mit der Zustimmung von Herrn Ofterdinger geistig nicht vollwertige Kinder in Rothenburgsort durch Herrn Bayer umgebracht würden.« [206]  
    All das kam dem mitverantwortlichen Senator Ofterdinger zu Ohren, der sich daraufhin an einen Mann wandte, der in Hamburg als Autorität für Nervenheilkunde galt, an

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