Die Beschenkte
folgten Jem in einen hell erleuchteten Raum, der Katsa an eins von Raffins Arbeitszimmern erinnerte, das immer mit aufgeschlagenen Büchern, Flaschen mit seltsam gefärbten Flüssigkeiten, zum Trocknen aufgehängten Kräutern und merkwürdigen Versuchsaufbauten angefüllt war, die Katsa nicht verstand. Nur waren hier die Bücher durch Landkarten und Schautafeln ersetzt, die Flaschen durch Instrumente aus Kupfer und Gold, die Katsa nicht kannte, die Kräuter durch Stricke, Leinen, Haken, Netze – Gegenstände, die Katsa auf einem Schiff erwartet hatte, über deren Zweck sie aber nicht mehr wusste als über den Sinn von Raffins Experimenten. In einer Ecke stand ein schmales Bett mit einer Truhe an seinem Fußende. Auch das war wie in Raffins Arbeitsräumen, denn auch er hatte dort ein Bett aufgestellt, für jene Nächte, in denen er mehr an seine Arbeit als an seine Bequemlichkeit dachte.
Die Kapitänin stand vor einem Tisch mit einer ausgebreiteten Landkarte und hatte einen Seemann bei sich, der fast so groß war wie Bär. Die Kapitänin war eine Frau jenseits des Alters, in dem man Kinder gebärt, ihr stahlgraues Haar hatte sie im Nacken straff zu einem Knoten gebunden. Ihre Kleidung glich der der übrigen Seeleute: braune Hose, braune Jacke, schwere Stiefel und ein Messer im Gürtel. Ihre Miene war streng und ihr Blick, als sie sich den beiden Neuankömmlingen zuwandte, wach und durchdringend. Katsa spürte in diesem hellen Raum, als die hellen Augen dieser Frau sie anblitzten, zum ersten Mal, dass ihre Verkleidungen ihnen von jetzt an nichts mehr nützten.
Jem ließ Katsas Münzen in die ausgestreckte Hand der Kapitänin fallen. »Sie haben noch viel mehr davon, Käpt’n, in diesem Geldbeutel.«
Die Kapitänin betrachtete das Gold in ihrer Hand. Dann richtete sie die zusammengekniffenen Augen auf Katsa und Bitterblue. »Wo habt ihr das her?«
»Wir sind mit Prinz Greening von Lienid befreundet«, sagte Katsa. »Es ist sein Gold.«
Der große Seemann neben der Kapitänin schnaubte. »Mit Prinz Bo befreundet! Natürlich sind sie das.«
»Wenn ihr unseren Prinzen bestohlen habt …«, fing Jem an, doch Kapitänin Faun hob die Hand. Sie schaute Katsa so scharf an, dass Katsa den Eindruck hatte, der Blick der Frau würde an der Rückseite ihres Schädels schaben. Sie betrachtete Katsas Jacke, den Gürtel, die Hose, die Stiefel, und Katsa fühlte sich nackt vor diesen klugen ungleichen Augen.
»Ich soll euch glauben, dass Prinz Bo zwei zerlumpten Jungen aus Sunder einen Beutel Gold gegeben hat?«, fragte sie schließlich.
»Ich glaube, Sie wissen, dass wir keine Jungen aus Sunder sind.« Katsa griff unter ihre Jacke. »Er gab mir seinen Ring, damit Sie wissen, dass Sie uns trauen können.« Sie zog die Schnur über den Kopf und hielt der Kapitänin den Ring vors Gesicht. Der Schrecken in den Augen der Frau und die empörten Schreie von Jem und Bär warnten sie vor dem Chaos, in das sich der Raum plötzlich verwandelte. Beide stürzten auf sie zu; Jem schwang sein Messer, Bär sein Schwert, und der Seemann neben der Kapitänin hatte ebenfalls eine Klinge gezogen.
Bo hätte erwähnen können, dass seine Leute beim Anblick seines Rings in Wahnsinn verfallen würden, dachte Katsa. Aber sie würde jetzt handeln und ihren Ärger später überdenken. Sie zerrte Bitterblue in eine Ecke, damit ihr eigener Körper zwischen dem Kind und allen anderen im Raum war. Dann packte sie Jems Messerarm so fest, dass er aufschrie und die Klinge auf den Boden fallen ließ. Sie stieß seine Füße unter ihm weg, wich Bärs Schwert aus, schwang das Bein in die Luft und trat ihm gegen den Kopf. Während Bär zu Boden sank, hielt Katsa Jem schon sein eigenes Messer an die Kehle. Sie hakte den Fuß unter Bärs Schwert und kickte es in die Luft, fing es mit der freien Hand auf und streckte es dem anderen Seemann entgegen, der zum Sprung bereit mit gezogenem Messer außerhalb ihrer Reichweite stand. Noch immer baumelte die Schnur mit dem Ring von ihrer Hand, von derselben Hand, die das Schwert hielt, und die Kapitänin konnte den Blick nicht von ihm wenden.
»Halt«, sagte Katsa zu dem Seemann. »Ich will dir nichts tun, und wir sind keine Diebe.«
»Niemals würde Prinz Bo diesen Ring einem Gassenjungen aus Sunder geben«, keuchte Jem.
»Und du erweist deinem beschenkten Prinzen wenig Ehre«, sagte Katsa und drückte ihm ihr Knie in den Rücken, »wenn du glaubst, ein Gassenjunge aus Sunder hätte ihn berauben können!«
»Nun
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